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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt
Autoren: Batya Gur
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1. Das junge Mädchen
     
    Margaliot begleitete sie aus seinem Büro. Bis zum Fahrstuhl ging er neben ihr, als wolle er noch etwas Wichtiges sagen. Den Arm hielt er angewinkelt, fast als führe er sie, ohne sie jedoch wirklich zu berühren. »Hexe«, rief er ihr nach, bevor die Türen zugingen. »He, Hexe, sagen Sie mir Bescheid, wenn das Ergebnis der genetischen Untersuchung da ist.« Die Türen schlossen sich, bevor ihr eine geistreiche Antwort eingefallen war. Im Aufzug hing ein schwerer Duft von süßem, teurem Parfüm. Er mischte sich mit dem Geruch nach Maschinenöl und Essen, den es hier immer gab, als warteten direkt unter den Aufzugskabeln die Nirostakessel voll brodelnder Hühnersuppe.
    Jo’ela stand im Aufzug, der hinunter zum Kellergschoß fuhr, und hielt mit beiden Händen das Reagenzglas fest, atmete die stickige Luft ein und versuchte, das Unbehagen beiseite zu schieben. Die Intimität der Worte, die er ihr nachgerufen hatte, bereitete ihr keinerlei Vergnügen. Auch der Ausdruck »Hexe«, der durchaus freundlich gemeint war und bedeutete, daß er sie für eine Frau hielt, die immer alles wußte und die sich von den anderen unterschied, verwirrte sie eher. Bevor die muffige Kabine sie schnell hinunterbrachte, in dem kurzen Moment, als sie vor den geschlossenen Türen stand, nahm ein Gedanke Gestalt an: Was bei mancher Voraussage so richtig und endgültig zu sein scheint, entpuppt sich später als eine obere Schicht, die das Gegenteil verbirgt, während eine andere Voraussage, die im ersten Moment so absurd und unsinnig wirkt, daß sie Widerstand und Ablehnung hervorruft, sich im nachhinein als die richtige Diagnose erweist. Diesmal war die Vorhersage von heftigen Kopfschmerzen begleitet. Sie hatten angefangen, als das junge Mädchen das Zimmer verließ, und waren seither nicht schwächer geworden. Zu Beginn war es nur ein Bohren in der Mitte der Stirn gewesen, ein leichtes Pochen, das sich allmählich bis zu den Schläfen ausbreitete.
    Es beunruhigte sie immer aufs neue, daß ihre Voraussagen, die Margaliot als seltene Intuition bezeichnete, als echte diagnostische Begabung, so gar nicht berechenbar waren. Nie konnte sie sicher sein, ob sie, wie im Fall des jungen Mädchens, der Realität entsprachen oder ob sie, wie im Fall des Babys gestern, absolut nichts zu bedeuten hatten. Was sie bedrückte, auch in diesem Moment, und was auch Margaliots Wort von der »Hexe« in ein aggressiveres Licht rückte, ebenso wie die Ehrfurcht, mit der der neue Praktikant sie an diesem Morgen betrachtet hatte, war die Ungewißheit, ob das, was sie sah, wirklich stimmte. Es gab keinerlei Gesetzmäßigkeit hinsichtlich der Qualität der Intuitionen, die man ihr nachsagte. Manchmal, nach einer Morgenvisite, besonders wenn es sich um einen unklaren oder außergewöhnlichen Fall handelte, neigte Margaliot den Kopf zur Seite und sagte: Vielleicht sollten wir Doktor Goldschmidt fragen, bestimmt weiß sie schon etwas. In solchen Momenten – wenn es unmöglich war zu wissen, was sich hinter seiner Ironie verbarg – kam plötzlich ihre Sicherheit, daß er sie beruflich schätzte, ins Wanken. Ohne zu wissen, ob er es diesmal ernst meinte – er hatte den Blick gesenkt und betrachtete konzentriert seine Hände, so daß sie nicht sehen konnte, ob in seinen Augen, über den dunklen Flecken, dieses braungrüne Funkeln tanzte –, zählte sie alles auf, was sie vorhatte, um ihre Vermutungen zu verifizieren und zu einer korrekten Diagnose zu kommen. Besonders dann, wenn ihre Voraussage so klar schien, mußte man sich versichern, vorsichtig sein und auch das Selbstverständlichste untersuchen. Ausgerechnet in solchen Momenten, wenn die Haut für einen Moment durchsichtig wurde und man alles sah, wie im Fall des jungen Mädchens, mußte man sich hüten, ein Wort zu sagen. Man mußte energisch und autoritär sein und jedes Mitgefühl beiseite schieben. Man durfte nur über die vorläufigen Fakten sprechen, sonst nichts. Zum Beispiel hätte ihr diese blödsinnige Bemerkung im Säuglingszimmer nicht passieren dürfen. Mit einem Spatel hatte sie erstaunt das Stück überschüssiger Haut angehoben, das die großen Schamlippen verband, und zu der Schwester, die die Windeln zusammenlegte, gesagt: »Das ist nichts, nur Haut, meiner Meinung nach ist alles andere in Ordnung.«
    »Ich habe gedacht, das wäre ein Fall für Sie«, hatte die Schwester sich entschuldigt. Und dann hatte sich herausgestellt, daß nichts in Ordnung war.
    Schon den ganzen
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