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The Forest - Wald der tausend Augen

Titel: The Forest - Wald der tausend Augen
Autoren: Carrie Ryan
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die sie mir erzählt hat. Ich weigere mich, irgendwelche Einzelheiten zu vergessen, und habe panische Angst, dass es schon passiert sein könnte. Jede Geschichte gehe ich noch einmal durch – dem Anschein nach völlig irrwitzige Geschichten über Meere und Gebäude, die in den Himmel ragen, und Männern, die den Mond berührt haben. Sie sollen tief verwurzelt sein in meinem Kopf, ein Teil von mir werden, den ich nicht verlieren kann, wie ich meine Eltern verloren habe.

    In dieser Zeit besucht mich mein Bruder nicht und von den Schwestern höre ich keine Neuigkeiten von ihm. Ob er wohl an mich denkt? Ich will wütend auf ihn sein, in einem anderen Gefühl schwelgen als Schock und Schmerz, aber ich begreife, dass das seine Art zu trauern ist.
    Und schließlich, nachdem eine Woche vergangen ist, kommt Schwester Tabitha zu mir und gibt mir eine schwarze Tunika, die ich anziehen soll. Sie sagt, ich bin frei und kann gehen. Und ich soll Gott danken, dass Er mir die Stärke gegeben hat, mit meinem Leben weiterzumachen.
    Ich nicke, will ihr nicht sagen, dass Gott nichts damit zu tun hat, und gehe langsam zurück zum Haus meiner Familie. Vor ein paar Wochen noch haben wir hier glücklich und in Sicherheit zusammengelebt. Jetzt, nachdem meine Mutter von uns gegangen ist, gehört das Haus meinem Bruder, denn als einziger Sohn hat er es geerbt. Als ich näher komme, überfällt mich ein Schmerz, gegen den ich mich nicht wehren kann, denn ich weiß, sie ist nicht da. Nie mehr wird sie da sein. Ich denke an all die Erinnerungen, die in diesen rauen Blockhauswänden stecken, all die Wärme, das Lachen und die Träume.
    Mir ist, als könnte ich sehen, wie sie heraussickern und im Sonnenlicht vergehen. Als wollte sich das Haus von unserem Schicksal reinigen, indem es meine Mutter, ihre Geschichten und unsere Kindheit vergisst. Ohne darüber nachzudenken, lege ich eine Hand an die Wand rechts von der Tür. Wie an jedem Gebäude in unserem Dorf
befindet sich dort eine Zeile aus der Schrift, die von der Schwesternschaft ins Holz geschnitzt wurde. Es ist unsere Gewohnheit und unsere Pflicht, jedes Mal, wenn wir eine Schwelle überschreiten, eine Hand auf diese Schriftzeichen zu legen, die uns an Gott und Sein Wort erinnern sollen.
    Ich warte darauf, dass es mich beruhigt, mich mit Licht und Gnade erfüllt. Aber das geschieht nicht, der dumpfe Schmerz in mir wird nicht gelindert. Ob ich mich wohl je wieder ganz fühlen werde, jetzt, da ich nicht mehr an Gott glaube?
    Das Holz unter meinen Fingerspitzen ist glatt, nachdem Generationen von Dörflern ihre Hände auf diese eine Stelle gedrückt haben. Diese eine Stelle, die meine Mutter nie wieder berühren wird.
    Als hätte er gewusst, dass ich heute komme, öffnet mein Bruder die Tür und meine Hand zuckt weg von dem Schriftvers. Ihn zu sehen, löst Erinnerungen und neuen Schmerz aus. Er lässt mich nicht eintreten. Ob Beth uns reden hören kann?
    Ich bin erstaunt, wie scheu ich in der Gegenwart meines eigenen Bruders bin, ich schlinge die Finger ineinander. Früher waren er und ich einmal Freunde und wir haben alles miteinander geteilt. Aber er ist immer meines Vaters Sohn gewesen und ich die Tochter meiner Mutter. Unseren Vater an die Ungeweihten zu verlieren, war zu viel für ihn – und in den letzten Monaten habe ich beobachten können, wie er sich verhärtet. Er hat sich auf seine Aufgaben als Wächter gestürzt und ist in ihren Reihen
rasch mehrere Dienstgrade aufgestiegen. In seinem Gesicht suche ich nach der Zärtlichkeit von einst, aber ich kann nur scharfe Kanten finden.
    »Warum hast du sie gehen lassen?«, fragt er mich. Er hält sich eine Hand über die Augen, um sie vor der Sonne zu schützen, die über meine Schulter scheint. Diese Haltung erinnert mich an meine Mutter, die so am Waldrand stand und nach unserem Vater Ausschau hielt.
    Ich habe diese Frage erwartet, und doch weiß ich nicht, was er hören will. »Es war ihre Wahl«, sage ich ihm.
    Er spuckt mir vor die Füße und etwas von der Spucke bleibt an den schwarzen Bartstoppeln an seinem Kinn hängen. »Es war nicht ihre Wahl.« Seine Stimme klingt gepresst und ausdruckslos, und ich weiß, am liebsten würde er brüllen, doch er will im Dorf keine Szene machen. »Sie war verrückt, sie war krank.«
    Ich fühle, wie seine Wut und sein Schmerz über mich hereinbrechen, und möchte sie auf mich nehmen und ihm helfen, diese Last zu tragen. Aber meine eigenen Gefühle sind schon zu viel für mich, sie wirbeln herum und
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