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The Forest - Wald der tausend Augen

Titel: The Forest - Wald der tausend Augen
Autoren: Carrie Ryan
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eines Tages jemand wie Harry für mich sprechen würde. Oder dass einer der anderen Jungen in meinem Alter sich für mich interessieren würde. Ich hatte gehofft, eines Tages für einen Mann so eine Liebe zu empfinden wie meine Mutter, die bereit war, ihrem Ungeweihten Mann in den Wald der tausend Augen zu folgen.
    Selbstverständlich könnte Jed sich dazu entscheiden, mich aufzunehmen und abzuwarten, ob im nächsten Jahr
jemand für mich spricht. Dann hätten die anderen Familien im Dorf Zeit, über die Tatsache hinwegzukommen, dass meine beiden Eltern jetzt Ungeweihte sind. Dass unsere Familie unaufhörlich vom Tod berührt wird. Aber es ist offensichtlich, dass er nicht willens ist, diese Wahl zu treffen.
    »Es ist noch Zeit«, sage ich. Ich kann die Verzweiflung in meiner Stimme hören, das dringende Bedürfnis, von ihm aufgenommen zu werden, jetzt, da nur noch wir beide geblieben sind.
    »Dein Platz ist bei den Schwestern«, sagt er tonlos. »Viel Glück.« Der Druck seiner Finger auf meinem Arm schiebt mich weg vom Eingang seines Heims. Ich schaue ihm in die Augen, und mir scheint, er wünscht mir wirklich Glück.
    »Und Beth?«, frage ich. Jede Entschuldigung ist mir recht, noch eine Weile länger bei meinem Bruder zu bleiben, denn ich hoffe, die Freundschaft wieder zu entfachen, die uns vor ein paar Wochen noch verbunden hat, die uns unser ganzes Leben lang verbunden hat.
    Ich beobachte, wie sich die Muskeln in seinem Kiefer anspannen, wie sich seine Hände um den Türrahmen krampfen. »Sie hat das Kind verloren«, sagt er. Er tritt zurück ins Haus, in der Dunkelheit dort drinnen ist sein Gesichtsausdruck nicht zu erkennen. »Es war ein Junge«, fügt er hinzu und schlägt die Tür zu.
    Ich mache einen Schritt vor, bereit, mich hineinzudrängeln. Aber dann höre ich, wie der Riegel vorgeschoben wird, und bleibe mit erhobener Hand stehen. Ich möchte
ihn packen und halten und mit ihm weinen. Ich wäre Tante geworden, denke ich, und lege meine Hand auf die Wärme der hölzernen Tür. Ich möchte Jed anschreien, dass mich das alles auch schmerzt und dass es mir leidtut und dass ich ihn brauche.
    Aber dann wird mir klar, dass er zum Trauern seine neue Familie hat. Und dass ich ihm nicht mehr genug Trost spenden kann. Ich bin nichts weiter als eine Erinnerung an den Tod unserer Eltern. Ich drücke meine Hand gegen die Tür, meine Fingernägel bohren sich ins Holz, als ich begreife, wie ganz und gar allein ich bin.
    Ich bemühe mich, das Brennen im Hals zu unterdrücken, lasse die Hand sinken und drehe dem einzigen Zuhause den Rücken, das ich je gekannt habe. Auf der anderen Straßenseite stehen die vertrauten Häuser. Die leuchtenden Sommergärten, in denen nackte Erde zu sehen ist. Dort halten sich drei kleine Mädchen an den Händen und wirbeln singend im Kreis herum. Ich weiß, ich sollte zurück zum Münster gehen, doch ich weiß auch, dass ich mein Leben, sobald ich mich der Schwesternschaft anschließe, dem Studium der Schrift widmen muss und wenig Zeit für meine eigenen Launen und Wünsche bleiben wird. Und deshalb lasse ich die Gruppe kleiner Häuser hinter mir, wandere an den Feldern entlang, die jetzt abgeerntet und für den Winter bereit gemacht worden sind, und klettere auf den Hügel, der auf der Sonnenaufgangsseite unseres Dorfes aufragt.
    Als Kind habe ich in den Schulstunden bei den Schwestern gelernt, dass Sie – wer Sie waren, ist lange vergessen –
vor der Rückkehr wussten, was kommen würde. Sie wussten, dass etwas ganz furchtbar schiefgegangen und es nur eine Frage der Zeit war, ehe die Ungeweihten alles überrennen würden.
    Da dachten Sie noch, Sie könnten es kontrollieren. Und während die Ungeweihten die Lebenden ansteckten und die Rückkehr immer mehr um sich griff, begannen Sie emsig, Zäune zu bauen. Unendlich lange Zäune. Ob diese Zäune die Ungeweihten ausschließen oder die Lebenden einschließen sollten, wissen wir nicht mehr. Aber das Resultat war am Ende unser Dorf, eine Enklave von Hunderten von Überlebenden inmitten eines riesigen Waldes von Ungeweihten.
    Es kursieren verschiedene Theorien darüber, wie unser Dorf mitten in diesem Wald entstanden ist. Das Münster und einige andere Gebäude stammen eindeutig aus einer Zeit vor der Rückkehr, manche Leute meinen deshalb, dass Sie diesen Ort als eine heilige Stätte errichtet haben. Andere behaupten, wir seien die Auserwählten und unsere Vorfahren seien als die Besten ihrer Zeit zum Überleben hierher geschickt worden.
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