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The Forest - Wald der tausend Augen

Titel: The Forest - Wald der tausend Augen
Autoren: Carrie Ryan
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überwältigen mich derart, dass ich unfähig bin, meinen Bruder zu trösten.
    »Ich konnte sie nicht töten, Jed. Das konnte ich sie nicht tun lassen.« Ich widerstehe dem Drang, beim Reden auf meine Hände zu schauen.
    »Und sie rauszuwerfen zu den Ungeweihten? Was glaubst du denn, was das war, Mary?« Er packt meine Schulter so grob, dass seine Finger den Knochen umklammern. »Ist dir denn nicht klar, dass ich sie jetzt töten muss?
Was glaubst du denn, was passiert, wenn ich sie sehe, wenn ich auf Patrouille bin? Denkst du, ich kann sie laufen lassen?« Er macht eine ausladende Armbewegung über die Felder hinweg Richtung Zaun. »So? Das ist kein Leben. Das ist nicht natürlich. Das ist krank und schrecklich und böse – und ich kann einfach nicht fassen, dass du mir das angetan hast. Dass du mich zu dem gemacht hast, der unsere Mutter töten muss, weil du nicht stark genug dazu warst.«
    Jetzt begreife ich, was er wollte. Ich sollte sie töten, damit er selbst keine Wahl treffen müsste.
    »Es tut mir leid, Jed«, sage ich, denn ich habe keine Ahnung, wie ich die Dinge zwischen uns sonst wieder in Ordnung bringen soll. Er ist ein Wächter, einer der wenigen, deren Pflicht einzig und allein darin besteht, das Dorf zu beschützen, die Zäune zu flicken und die Infizierten zu töten. Ich weiß nicht, wie ich ihn dazu zwingen kann einzusehen, dass es ihre Wahl war, nicht meine. Als sie diese Entscheidung traf, wird sie gewusst haben, dass ihr eigener Sohn sie später möglicherweise würde töten müssen. Wie soll ich ihm begreiflich machen, dass Liebe und Hingabe Menschen manchmal derart in die Knie zwingen können, dass sie sich ihrem Ehepartner im Wald anschließen möchten? Selbst wenn das bedeutet, alles andere im Leben wegzuwerfen.
    Ich will auf ihn zugehen und ihn umarmen, aber er macht seinen Arm steif, und da seine Hand noch auf meiner Schulter liegt, kann ich ihm kein Stück näher kommen.

    »Ich bin hier jetzt der Mann im Haus, Mary«, sagt er.
    Ich versuche, ihn mit einem Lächeln daran zu erinnern, dass er für mich immer mein Bruder bleiben wird. »Das heißt nicht, dass du deine eigene Schwester nicht in den Arm nehmen kannst«, sage ich.
    Er lacht nicht, wie ich gehofft hatte. »Wie ich höre, wirst du der Schwesternschaft beitreten«, sagt er. Diese Worte treffen mich wie ein Schlag ins Gesicht.Was habe ich erwartet? Wut, Schmerz, Bedauern – doch nicht, dass er mich abweisen würde. Nicht, dass er mich rauswerfen und den Schwestern überlassen würde, ehe ich überhaupt eine Gelegenheit hatte, mit ihm zu reden. Mich zu verteidigen. Deshalb hat er mich nicht im Münster besucht, in seinen Augen gehörte ich schon zu ihnen, ich war schon ein Mitglied der Schwesternschaft.
    Irgendwie habe ich immer gewusst, dass es so kommen wird, dass dieses Gespräch in unserem Leben unvermeidlich ist. Als ich heute auf dem Weg zu unserem Haus war, wusste ich schon irgendwie, dass ich nicht einmal würde reinkommen dürfen, um die paar Habseligkeiten meiner Mutter zusammenzusammeln. Jed würde alles bekommen.
    »Niemand hat für dich gesprochen, Mary. Niemand hat um dich gebeten, Mary. Niemand wird diesen Winter um dich werben.« Seine Finger bohren sich noch immer in meinen Arm.
    »Aber Harry«, sage ich und weise mit einer sinnlosen Geste über meine Schulter hinweg auf den Hügel, hinter dem der Bach liegt, an dem Harry mich vor nur einer Woche gebeten hat, mit ihm zum Erntefest zu gehen. Ich
habe Mühe, mich daran zu erinnern, ob ich ihm eine Antwort gegeben habe.
    »Er hat nicht für dich gesprochen, Mary.«
    Ich starre ihn an. Alles, was ich je gewesen bin, scheint aus meinem Körper zu strömen und mich zu verlassen. In meinem Dorf hat eine unverheiratete Frau drei Möglichkeiten. Sie kann bei ihrer Familie wohnen; ein Mann kann für sie sprechen, den Winter hindurch um sie werben und sie bei den Frühlingsfeierlichkeiten heiraten; oder sie kann sich den Schwestern anschließen. Unser Dorf ist schon seit kurz nach der Rückkehr von der Außenwelt abgeschlossen, und wenn wir auch mit den Jahren stärker und zahlreicher geworden sind, so ist es doch immer noch zwingend erforderlich, dass jeder gesunde junge Mann und jede Frau heiraten und möglichst Kinder bekommen.
    Die Krankheit, die so viele meiner Generation dahingerafft hat, hat neuen Nachwuchs noch viel wichtiger gemacht. Und da so wenige von uns in den letzten Jahren im heiratsfähigen Alter waren, habe ich immer fest damit gerechnet, dass im Herbst
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