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The Forest - Wald der tausend Augen

Titel: The Forest - Wald der tausend Augen
Autoren: Carrie Ryan
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Wer wir sind und warum wir hier sind, ist nicht überliefert. Es ist nicht überliefert, weil unsere Vorfahren mit dem bloßen Überleben alle Hände voll zu tun hatten und deshalb nicht daran gedacht haben weiterzugeben, was sie wussten. Die kleinen Relikte, die uns geblieben waren – wie etwa das Bild von meiner im Meer stehenden Urururgroßmutter -, sind den Flammen zum Opfer gefallen, als ich noch ein Kind war.
    Wir wissen nichts von dem, was außerhalb unseres Dorfes
ist, außer dem Wald – und noch weniger wissen wir, was es über den Wald hinaus noch gibt.
    Aber zumindest waren Sie, die unser Dorf eingezäunt haben, so schlau, nach der Erschaffung unserer kleinen Welt einen Vorrat an Maschendraht zurückzulassen. Und so begann das Dorf nach seiner Gründung, den Wald zurückzudrängen und sich auszudehnen. Nach und nach hackten die Leute aus meinem Dorf, meine Vorfahren, Waldstücke kahl und beanspruchten das Land für sich, dabei schoben sie die Zaunlinie immer weiter vor, bis ihnen das Baumaterial ausging.
    Dieser Hügel war Teil des letzten großen Vorstoßes, der letzten großen Umfriedung. Unseren Vorfahren war es wichtig, dieses hoch gelegene Land zu besitzen, damit sie den Wald im Auge behalten konnten. Eine Zeitlang gab es auf der Kuppe des Hügels einen Wachturm, doch jetzt ist er baufällig und wird nicht mehr benutzt. Aber das hält mich nicht davon ab hinaufzuklettern. Ein letztes Mal, bevor ich zu den Schwestern gehe, bin ich am höchsten Punkt unseres Dorfes.
    Ich schaue auf die Welt hinunter. Zu meiner Rechten erstrecken sich Felder und Wiesen, die hier und da mit Kühen und Schafen gesprenkelt sind. Sie wurden aus den Ställen getrieben, die am äußersten Rand der Einzäunung stehen. Es macht nichts, wenn sie abhauen und auf den Wald zusteuern, wie alle anderen Lebewesen außer den Menschen können sie nicht von den Ungeweihten angesteckt werden.
    Zu meiner Linken liegt das Dorf. Von hier oben gesehen,
wirken die Häuser noch kleiner, das imposante Münster nimmt einen großen Teil der Sonnenuntergangsgrenze ein, nur der Friedhof steht zwischen dem riesigen Steingebäude und den Zäunen am Waldrand.Von hier aus kann ich sehen, wie wenig elegant die Flügel des Münsters sind, in seltsamen Winkeln sprießen sie aus dem Mittelschiff.
    Am Fuß des Hügels – auf der dem Dorf gegenüberliegenden Seite – befindet sich ein Tor. Es geht auf einen Pfad hinaus, der tief in den Wald hineinführt. Eine Narbe, die sich durch die Bäume zieht. Obwohl dieser Pfad und der Pfad auf der Münsterseite des Dorfes eingezäunt sind, haben die Schwestern und die Wächter verboten, sie zu benutzen.
    Die Pfade sind nutzlose Streifen Land, das von Brombeergestrüpp, Büschen und Unkraut überwuchert ist. Und die Tore, die sie versperren, sind mein ganzes Leben lang verschlossen geblieben.
    Niemand erinnert sich, wohin die Pfade führen. Einige sagen, sie sind Fluchtwege, andere sagen, sie sind da, damit wir tief in den Wald gehen können, um Holz zu holen. Wir wissen nur, dass einer zur aufgehenden Sonne hinzeigt, der andere zur untergehenden. Unsere Vorfahren haben bestimmt gewusst, wohin die Pfade führen, aber dieses Wissen ist verloren gegangen.
    Wir sind selbst die Hüter unserer Erinnerungen und wir haben versagt. Es ist wie bei diesem Spiel, das wir als Kinder in der Schule gespielt haben. Da sitzen alle im Kreis und ein Kind flüstert dem nächsten einen Satz ins
Ohr, der reihum weitergegeben wird, bis das letzte Kind im Kreis laut aussprechen darf, was es gehört hat, nur um festzustellen, dass es überhaupt nicht das ist, was es sein sollte.
    So ist jetzt unser Leben.

4
    E rst am Spätnachmittag klettere ich vom Turm hinunter und gehe zurück zum Münster. Die Schwestern erwarten mich schon.
    »Du hast dich also entschieden, eine von uns zu werden?«, fragt mich die Älteste, Schwester Tabitha. Flankiert von zwei Schwestern mittleren Alters, steht sie mir vor dem Altar gegenüber.
    »Ich habe keine andere Wahl«, sage ich, denn das ist die Wahrheit.
    Scharf zieht sie die Luft ein, ihre Lippen pressen sich fest aufeinander. Dann dreht sie sich plötzlich um und geht durch eine Tür, die neben der Kanzel hinter einem Vorhang verborgen ist. »Folge mir«, sagt sie. Das ist keine Bitte und ich mache es. Die beiden anderen Schwestern kommen uns hinterher.
    Durch einen gewundenen Gang gelangen wir tiefer ins Münster, als ich je vorgedrungen bin, bis wir vor einer großen, mit Eisenbändern beschlagenen
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