Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das vergessene Zepter

Das vergessene Zepter

Titel: Das vergessene Zepter
Autoren: Tobias O. Meißner
Vom Netzwerk:
Prolog
    Der Mann, der seinen Namen vergessen hatte, saß auf dem Steinboden und ließ aus seinen Handflächen Insekten wachsen.
    Diese Insekten waren merkwürdig und unnatürlich, einige hatten zwanzig weiche Beine, andere nur welche auf der einen Seite des Leibes, wieder andere zwei Köpfe, den einen vorne, den anderen hinten. Die meisten von ihnen lebten nicht lange, fielen zu Boden, krochen dort im Kreis herum und starben. Andere stiegen auf bis zu dem vergitterten Fenster, das hoch über dem Kopf des Mannes für das einzige Licht in der Zelle sorgte, und verdampften dort im warmen Strahl der Sonne.
    Der Mann wandte sich nicht um, als er von der Tür her eine Stimme hörte.
    Â»Gut hast du’s hier, mein Freund. Weit hast du’s gebracht. Dunkel und still, kein Baum, der dir ins Denken raschelt. Fast könnte man dich beneiden.«
    Die Tür öffnete sich. Nicht dort, wo die Scharniere waren, sondern an der anderen Seite schwang sie auf.
    Der Mann, der den kleinen, aber hohen Raum betrat, war groß und hager und trug einen breitkrempigen Hut. Nebel und Schatten umwallten ihn wie Qualm. Er stellte sich hinter den Sitzenden und sah sich in der Zelle um. Die Gerüche von Honig und Harnsäure vermischten und ergänzten sich.
    Â»Sie haben wohl Angst gehabt, dich mit den anderen zusammenzutun. So haben sie dich isoliert, zu deinem eigenen Besten, natürlich. Das hat auch sein Gutes. Es war nicht weiter schwer, dich zu finden, Bienenmann. Sag, kannst du mich verstehen?« Der Hagere ging in die Hocke und sah dem Sitzenden ins Gesicht. Der Sitzende starrte weiter auf seine Hand. Dort mühte sich gerade eine zappelnde Hornisse ins Freie; ihr Kopf hatte keine Augen, aber zehn tastende Fühler.
    Â»Ssssssssssssssssssssssss …«, summte der Sitzende. Seine Augen schimmerten ebenso golden wie sein in der Zelle fettig und filzig gewordenes Haar.
    Â»Ja, du hast recht. Sing nur dein geflügeltes Leid. Die Welt ist ein Umsturz. Woran soll man sich halten, wenn nicht an einen Meister? Ist dir eigentlich klar, in welche Stadt man dich hier verbracht hat, nachdem du auf allen vieren zurückgekrochen kamst aus dem Land der Affen und Lawinen? Uderun ist das hier, die schöne Festung Uderun, mit ihren Türmen und Kemenaten und Schlachthöfen und Zierwegen. Uderun, das Törichte. Bist du jemals vorher hier gewesen? Ich schon, ich schon. Mit meinem Meister, vor zwei Jahrzwölften. Das war ein rechtes Fegen damals. Sieben, acht Familien hatten nachher Grund zur Klage. Die Kinder weinten Melodien. Im Himmel schlug ein Blitz. Und auf den Feldern der Tau schmeckte nach Löwenzahnwein. Erinnert sich Uderun an uns? Mit Sicherheit. In den Steinen eingemeißelt ist die Geschichte dieser Zeit.«
    Â»Ssssssssssssssssssssssss …«
    Der Hagere erhob sich wieder. »Ich bin unhöflich, verstehe, denn ich habe mich nicht vorgestellt: Ich bin Raukar. Einfach nur Raukar. Mein Meister ist der Zwölfte, der machtreichste Mörder unter dem Mond. Ich liebe und verehre ihn sehr, und es ist eine große Auszeichnung, für ihn arbeiten zu dürfen. Bald ist es wieder soweit. Zwölf Jahre sind um, mein Meister erwacht und erfüllt die Bitten und Anträge derer, die ihm das Opfer brachten. Jedesmal werden es mehr, ihre Wünsche vermessener, ihr Blutdurst freier von Hemmungen. Wir könnten dich brauchen, einen wie dich. Du bist ein Überlebender, ein Zaubermann, einer, der Ungeheuer macht. Ich bin nichts dergleichen. Ich bin nur eine rechte Hand.«
    Beide schwiegen. Das entstellte Insekt kullerte von der Hand des Sitzenden und kroch blind auf dem Boden umher.
    Â»Also, was sagst du?« Raukar zog sich seinen Hut vom Kopf und strich sich mit der Hand durch seine halblangen, störrischen Haare. Dann drehte er den Hut in den Händen wie einer, der verlegen ein Mädchen zu einem Tanz ausführen möchte. »Willst du hier dein Leben verbringen, wo man dir dein Essen durch die Luke einer Tür hereinschiebt, die du niemals öffnen darfst? Sie nennen das ein Haus für Kranke und Sieche, aber es ist nichts weiter als ein Kerker. Es ist Sommer draußen, ist dir das bewußt? Ich wette, du magst den Sommer. Wir könnten tauschen – ich würde mich hier wohl fühlen in dieser schmalen Stube. Aber der Meister kann uns beide brauchen. Also, was sagst du? Begleitest du mich unter den leeren
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher