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Tagebuch eines Engels

Tagebuch eines Engels

Titel: Tagebuch eines Engels
Autoren: Carolyn Jess-Cooke
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Mrs. O’Connor von gegenüber kam gerade von ihrem Abendspaziergang wieder. Toby packte sie am Arm wie ein Besessener.
    Â»Mrs. O’Connor, haben Sie heute Abend irgendjemanden an meiner Wohnungstür gesehen?«
    Sie glotzte ihn an. Ȁh, nein, Herzchen, ich glaube nicht …«
    Er raste zur nächsten Tür und hämmerte dagegen. Einige Minuten später wurde sie geöffnet. Ohrenbetäubende Musik quoll aus der Wohnung, und der chinesische Jugendliche war sichtlich betrunken. »Frohsneusjaa!«, lallte er.
    Okay, keine weiteren Fragen. Toby sprintete zurück in die Wohnung. Er schnappte sich mit zitternden Händen den Brief und las ihn sich mehrmals durch. Dann rief er bei der Polizei an und betete, dass Margot Wort halten würde. Dass sie warten würde.
    Und das tat sie. Sie aß die aprikosenglasierte Ente auf Ingwerreis und trank die Hälfte des Hausweins. Sie dachte darüber nach, was sie als Nächstes tun sollte. Sie dachte darüber nach, was sie sich jetzt wünschte. Und sie kehrte zurück zu dem Traum, den sie vor so vielen Jahren gehabt hatte: von dem Haus mit Garten. Von Toby als Schriftsteller. Von Theo als einem freien Mann.
    Vielleicht war das jetzt alles wirklich möglich.
    Aber ich war mit meiner Weisheit am Ende, weil ich ihr dabei zusah, wie sie träumte und sich wieder verliebte, wie ihr Körper vor lauter Hoffnung erglühte, wie das Licht um ihr Herz, das so viele Jahre geschlummert hatte, nun zu neuem Leben erwachte, pulsierte und sich weiß und blendend um sie breitete – während die Botschaft aus meinen Flügeln ganz klar lautete: Lass los. Lass es geschehen. Ich war außer mir, weil ich mich erinnern konnte, was ich direkt nach meinem Tod gesehen hatte: meine Leiche, wie sie auf genau diesem Bett liegt, auf genau diesem Laken, in meinem eigenen Blut.
    Lass bloß niemanden rein, riet ich ihr. Hat Toby mich umgebracht?, überlegte ich. Toby? Oder Kit? Valita? Sonya? Ich sang das Lied der Seelen. Raus hier!, kommandierte ich sie herum. Raus hier! Wer auch immer zur Tür hereinkommen würde, würde sie umbringen, da war ich mir ganz sicher. Dann trug ich ihr auf, zum Fenster zu gehen und den Leuten auf der Straße beim Feiern zuzusehen. Chinesisch Neujahr. Das Jahr der Schlange. Guck mal, die haben sogar schlangenförmige Festwagen. Und Feuerwerk. Weißt du was, geh doch nach unten und sieh es dir alles aus der Nähe an!
    Sie nahm das Glas mit dem restlichen Wein und schlenderte zum den Park überblickenden Fenster hinüber. Direkt unter ihr hatte sich eine ganze Horde von Menschen versammelt. Ein Festumzug wand sich durch den Park. Über der Stadt das Krachen von Feuerwerkskörpern, in das sich gelegentliche Freudenschüsse einreihten. Margot öffnete das Fenster und warf einen Blick auf den Wecker neben dem Bett. Gleich Mitternacht. Ach, Toby, dachte sie. Warum bist du jetzt nicht hier? Und ich sagte ihr, sie solle die Tür abschließen. Aber sie lachte nur und verwarf den Gedanken.
    Und dann schlug es zwölf.
    Die Schläge einer Uhr wurden über einige Lautsprecher im Park übertragen. Eins … Margot stützt sich mit den Händen auf der Fensterbank auf und sieht hinunter. Zwei … Am anderen Ende der Stadt hat Toby es aufgegeben, auf ein Taxi zu warten – er rennt jetzt zum Hotel. Drei … Ich blicke auf den blauen Stein hinunter, den ich um den Hals trage. Wie war das doch gleich, was wurde bei meiner Leiche gefunden? Ein Kaschmirsaphir? Vier … Margot nimmt sich Tobys Jacke und legt sie sich um die Schultern, weil sie friert. Fünf … Unten im Park jubelt jemand und feuert einen Freudenschuss in die Luft ab. Sechs … Ich sehe sie. Ich sehe die Kugel, wie sie durch die Dunkelheit rast. Ich sehe sie, wie man eine Münze sieht, die einem zugeworfen wird, oder einen Ball, der vom Tennisschläger abprallt. Ich sehe genau, wo die Kugel hinsteuert, auf Margots Fenster zu. Und in dem Moment weiß ich: Ich kann sie noch erreichen. Ich kann sie aufhalten. Doch dann die Botschaft in meinen Flügeln: Lass es geschehen. Sieben … Warum? , frage ich laut. Acht … Lass los. Neun … Toby in der Hotellobby. Er drückt auf den Aufzugknopf. Zehn … Ich schließe die Augen. Elf … Die Kugel trifft ihr Ziel, direkt neben Margots Herz. Zwölf … Sie kippt nach hinten um, schnappt noch einmal
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