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Tagebuch eines Engels

Tagebuch eines Engels

Titel: Tagebuch eines Engels
Autoren: Carolyn Jess-Cooke
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Baby. Ich erinnerte mich, wie es sich angefühlt hatte, es zu verlieren, daran, wie durcheinander ich gewesen war, daran, dass ich gar nicht recht gewusst hatte, was ich da verloren hatte. Daran, dass ich jedes Jahr zu seinem errechneten Geburtstermin überlegte, wie mein Leben sich wohl entwickelt hätte, wenn dieses Kind gelebt hätte.
    Und jetzt begegnete ich ihm.
    Â»Wir haben nicht viel Zeit«, warnte Nan.
    Ich ging wieder auf James zu und nahm ihn fest in den Arm. »Warum hast du das nicht schon früher gesagt?«
    Â»Hätte das denn etwas geändert? Wir sind so oder so miteinander verwandt.«
    Er wandte sich Theo zu. »Eines Tages werden wir uns als Brüder begegnen.«
    Ich sah die beiden an. Den Mann und seinen Engel. Meine Söhne.
    Ich gab James einen Kuss auf die Wange, und bevor ich noch etwas sagen konnte, war er weg.

    Nan und ich erreichten das Tal mit dem See, den Ort unserer ersten Begegnung. Das Ganze fühlte sich seltsam symmetrisch an. Eigentlich rechnete ich jederzeit damit, dass sie mich jetzt wieder in den See schubsen und somit ein drittes Mal auf die Erde schicken würde. Ich schloss die Augen und spürte das lange Gras an meinen Fingerspitzen, die feuchte Erde unter den Füßen. Ich wappnete mich für das, was mich erwartete. Vor uns sah ich die Straße wieder, die sich durch die grüne Hügellandschaft schlängelte, und mir sank das Herz. Ich ahnte, dass ich wusste, wo dieser Weg hinführte.
    Â»Komme ich jetzt in die Hölle?« Meine Stimme bebte.
    Sie blieb stehen und starrte mich an.
    Minutenlang passierte gar nichts. »Nan?«
    Dann, endlich, sprach sie: »Jetzt musst du Gott deine Aufzeichnungen übergeben, Ruth. Dein Tagebuch.«
    Sie nahm mich bei der Hand und führte mich zum See.
    Â»Nein«, sagte ich, als wir das Ufer erreichten. »Da gehe ich nicht wieder rein. Auf gar keinen Fall.«
    Sie hörte gar nicht auf mich. »Leg deine Aufzeichnungen aufs Wasser. Übergib sie Gott. Sie gehören jetzt ihm.«
    Â»Und wie mache ich das?«
    Â»Also, mir ist schon klar, dass du das nicht hören willst, aber du musst dafür tatsächlich noch mal ins Wasser steigen. Ich verspreche dir, dass du nicht ertrinken wirst.«
    Ich machte einen Schritt vorwärts, hielt mich dabei aber an ihren Händen fest. Sofort begann das über meinen Rücken strömende Wasser, sich wie zwei Bänder aufzuribbeln. Es löste sich von meiner Haut, und ich entließ es in die sanften grünen Wellen. Und in den Wellen sah ich Bilder von Margot, Bilder von Toby und Theo, Bilder von allem, was ich je gesehen, gehört, gefühlt und gespürt hatte. Was mich geängstigt und was ich je geliebt hatte, worauf ich vertraut hatte. Das alles befand sich jetzt im Wasser. Eine Art Buch, das sich auf die Reise zu Gottes Thron machte.
    Â»Und was jetzt?«, fragte ich. »Ist die Hölle da oben am Ende der Straße?«
    Wir standen immer noch im See. »Weißt du noch, was an dem Tag passiert ist, an dem du den Autounfall verhindert hast?«, entgegnete Nan.
    Â»Ich habe dafür gesorgt, dass es nicht dazu kam.«
    Â»Und wie hast du das gemacht?«
    Â»Ich glaube, es hatte was mit Vertrauen zu tun.«
    Â»Und was ist dann passiert?«
    Â»Mein Körper hat sich verändert.«
    Sie machte einen Schritt auf mich zu. Ihr Kleid breitete sich fächerförmig auf der Wasseroberfläche aus. »Du bist ein Seraph geworden. Das höchste aller Engelwesen. Teil der Armee des Lichts, die zwischen Himmel und Hölle steht. Wie ein Schwert in der Hand Gottes.«
    Ein was?
    Â»Ein Schwert in der Hand Gottes«, wiederholte sie langsam. »Ein lebendes Schwert. Das das Licht von der Dunkelheit trennt. Und darum musstest du die grauenhafteste aller Erfahrungen machen. Man kann nur ein Seraph werden, wenn man durch das reinigende Feuer geht. Indem man leidet, wie nur jemand leiden kann, der als sein eigener Schutzengel zurückkehrt.«
    Die Knoten der Verwirrung, die sich in mir festgesetzt hatten, begannen sich irgendwo ganz tief in mir aufzulösen, und diese Befreiung fühlte sich an wie ein Drachen, der von starken Winden in die Höhe getrieben wird. Unwillkürlich krümmte ich mich zusammen. Nan wartete, bis ich mich wieder aufrichtete, dann sprach sie weiter.
    Â»Als Engel auf Erden war deine Gegenwart gleichzeitig deine Vergangenheit, und du warst in der Lage, Entscheidungen zu
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