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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr
Autoren: C Geraghty
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Nasenhärchen heller. Die Kleidung, die ich dabeihabe, ist völlig ungeeignet: viel zu viel Stoff. Meine Vermieterin nennt sich Pommes Frites und ist auf eine groß gewachsene, dunkle, thailändische Art sehr schön. Sie hat mir erzählt, dass sie eigentlich ein Junge war, aber immer gewusst hat, dass sie ein Mädchen ist. Sie sagt, ihr Körper habe sie betrogen. Für meine Begriffe sieht er allerdings ganz in Ordnung aus. Zuerst wusste ich nicht, wie ich sie nennen soll. Sie möchte, dass ich sie Chips rufe. Das würde sie an ihre irischen Wurzeln erinnern (ihr Ur-Ur-Ur-Großvater war nach Australien geschickt worden, weil er ein Auge auf die Tochter eines Majors geworfen hatte, und in der Nähe der südlichen Küste Thailands war er von Bord gesprungen).
    Egal. Wo war ich? Ich bin in Chiang Mai. Die Märkte hier sind unbeschreiblich. Die Gerüche treffen dich wie eine Faust. Selbst wenn du nicht hungrig bist, knurrt dir der Magen. Hier essen sie Spinnen, Käfer, Eidechsen, Schnecken und alle Arten von Krabbeltieren. Eine Art Anti-McDonald’s, so würdest du es wohl nennen. Ich kann mich nicht entscheiden, ob du es lieben oder hassen würdest. Es ist laut hier. Ich kann sehen, wie du deine Haare aus dem Gesicht wirfst und den Mund zusammenpresst, damit du keine der Fliegen verschluckst, die den
Raum vor dir verdunkeln. Trotzdem sind die Menschen liebenswert, und die Affen fressen dir aus der Hand, wenn du sie lässt.
    Ein Ort wie dieser bringt dich dazu, über das Leben nachzudenken. Was ist sein Sinn? Eine Menge Menschen hier sind Buddhisten. Bei Tagesanbruch besuchen sie die Altäre ihrer Götter. Auf schweren Tabletts stellen sie wunderschöne Blumen und die frischesten Nahrungsmittel vor die goldenen Statuen. Die Blumen verwelken in der Sonne. Die Nahrungsmittel vertrocknen und schrumpeln. Dennoch kommen die Leute am nächsten Tag in der Morgendämmerung wieder. Sie sammeln die verwelkten Blumen ein, klauben die – harten und eingetrockneten – Nahrungsmittel auf, die nicht von den Affen gefressen wurden, und errichten den Altar aufs Neue. Ihre Buddhas sind prachtvoll, manche von ihnen sind über drei Meter hoch, leuchten golden und zeigen ein Lächeln so breit wie die Welt. Unser Gott ist ans Kreuz genagelt worden: blutig und ausgepeitscht. Kein Wunder, dass diese Leute lächeln. Ihre Götter lächeln. Sie werden glücklich bis ans Ende ihrer Tage leben.
    Nachdem ich so viel gereist bin und die Götter so vieler verschiedener Menschen kennengelernt habe, kann ich mich über all das nur wundern. Wir können nicht alle Recht haben, richtig? Unser Gott steht durch und durch für Buße, während er hier für Wohlbefinden steht. Um ehrlich zu sein, Grace, ich glaube an keines von beidem. Wir alle beißen irgendwann ins Gras, wie Dad immer zu sagen pflegte, und das ist das Ende. Machen wir das Beste daraus, solange wir hier sind. Wie auch immer, genug der Philosophie.

    Ich freue mich sehr auf Spanien nächsten Monat. Freue mich darauf, in Wasser zu schwimmen, das kalt und blau ist. Freue mich darauf, dich und deine rote Haarpracht zu sehen.
    Es kommt mir komisch vor, dass meine Reise beinahe zu Ende ist. Ich habe die Welt gesehen und bin nicht klüger als zuvor. Aber ich habe viele wunderschöne Dinge gesehen. Seerobben auf warmen Felsen bei Sonnenuntergang. Delphine, die in eleganten Bögen aus dem Wasser springen. Schneeweißes Wasser, das durch ein Blowhole strömt. Einen Vulkansee in der Farbe von Kornblumen. Himmelhohe Pyramiden. Einen Bär, der auf seinen Hinterbeinen steht und dessen Mund ein Grinsen – ja, ein Grinsen – umspielt. Es bedeutet nach wie vor nichts. Wir werden geboren. Wir sterben. Das, was wir dazwischen tun, das zählt. Das glaube ich wirklich. Und ich habe beschlossen, dass ich alles, was dazwischen ist, tun werde.
     
    Alles Liebe von Patrick

54
    Ich erreichte das Grab vor allen anderen. Das war mir wichtig gewesen. An einer der Ecken der Parzelle ließ ich mich nieder und platzierte meinen Hintern wie schon gestern auf dem schmalen Marmorrand. Die Kreatur war nicht zu sehen. Im Tageslicht sah das Grab anders aus.
    Jetzt vernahm ich Stimmen. Während sie langsam den Hügel heraufkamen, war ihr angestrengtes Atmen zu hören. Ich zog mich hoch und hielt mich am Grabstein fest. Der Stein fühlte sich warm an unter meiner Hand.
    Wenige Schritte vom Grab entfernt blieben sie eng beieinander stehen. Auch Caroline war da, hielt sich aber etwas abseits von der Hauptgruppe. Clare begegnete
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