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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr
Autoren: C Geraghty
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bleibe nicht.« Mir war es wichtig, dass er das wusste. Er schloss leise die Tür. Er sah müde aus. Natürlich noch immer wunderschön, aber müde.
    »Ich dachte nicht, dass du immer noch da sein würdest«, sagte ich.
    »Ja, ich habe mir noch ein paar Tage nach der Hochzeit freigenommen. Ich hatte es von vornherein so geplant. Bevor alles … Ich wollte mit dir wegfahren. Dich etwas vom Todestag ablenken, weißt du.« Die Unterhaltung mit Shane verlief nicht so, wie ich es erwartet hatte. Ich betrat völliges Neuland.
    »Gott, Shane, das tut mir leid.« Und so war es.
    »Willst du etwas zu trinken?« Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er so wütend gewesen. Das hier war die Ruhe nach dem Sturm, und sie verunsicherte mich.
    »Äh, nein danke, ich will nur …«
    »Schau, Grace, ich denke, wir müssen miteinander reden, findest du nicht auch?«
    Die Badezimmertür war geschlossen, und ich konnte das zweite Lied aus Alison Moyet’s Greatest-Hits-Album hören. Caroline würde bis zum Ende des Albums im Bad bleiben, was mir ungefähr zwanzig Minuten gab.
    »In Ordnung«, sagte ich mit einem Kopfnicken. Ich setzte mich ganz an den Rand der Couch. Die Wohnung war sauberer und ordentlicher als üblich, was meiner Abwesenheit zu verdanken war. Er brach zuerst das Schweigen.
    »Wo warst du? Und noch wichtiger, was zum Teufel
hast du da an?« In seiner Stimme schwang der Anflug eines Lächelns mit.
    »Das sind Marys Kleider.« Es war mir wichtig, dass ihm das klar war. »Ich war bei ihr.« Er nickte.
    Ich stellte die Bierflasche auf den Boden, straffte die Schultern und holte Atem.
    »Shane, es tut mir leid.«
    »Mir tut es auch leid.«
    »Warum?«, fragte ich. Das hatte ich nicht erwartet.
    »Caroline hat mir gesagt, dass ich dich seit meiner Abreise nach London vernachlässigt hätte. Eigentlich schon davor.«
    Das hatte Caroline gesagt?
    »Ich nehme an, seit Patrick gestorben ist.« Er sagte es langsam, tastete sich den Satz entlang.
    »Es war nicht deine Schuld«, sagte ich.
    »Ich hätte versuchen sollen, ihm zu helfen. Ich hätte derjenige sein sollen, der dir nachschwimmt. Ich war der bessere Schwimmer.«
    »Patrick hat mich gerettet«, sagte ich. Es war, als würde ich zum ersten Mal die Sterne erblicken. »Ich war am Ertrinken, und Patrick hat mich gerettet.« Ich sagte es noch einmal, diesmal lauter, und sah zu der Fotografie, die auf dem Kaminsims stand. Es mochte sich seltsam anhören, aber ich hatte den Vorfall bisher noch nie aus diesem Blickwinkel gesehen. Meine Erinnerungen waren unter dem Gewicht meiner Schuld begraben gewesen. Dankbarkeit. Das war es. Leichter als Luft. Sie brachte mich zum Lächeln.
    Ich war am Leben. Patrick hatte mich gerettet.
    Durch die Rohre in der Wohnung rauschte Wasser. Caroline musste den Stöpsel gezogen haben.
    »Ich geh jetzt besser«, sagte ich und stand auf. Auch Shane stand auf und sah mich an.

    »Du musst nicht gehen. Ich möchte nicht, dass du gehst. Vielleicht muss es ja nicht aus sein«, sagte er. »Vielleicht könnte ich dir ja verzeihen, wegen, du weißt schon, Brendan.«
    »Er heißt Bernard«, korrigierte ich ihn leise.
    »Egal wie. Wir könnten darüber hinwegkommen. Das machen andere ständig.« In seiner Stimme lag unterschwellig Panik, und ich erkannte den Grund dafür. Er dachte daran, dass er allein sein würde. Ich hatte Zeit gehabt, mich an diesen Gedanken zu gewöhnen.
    Nur für einen Augenblick gestattete ich mir, mir uns in seiner Londoner Wohnung vorzustellen, wie wir auf dem Balkon saßen, Pimm’s nippten und den Sonnenuntergang beobachteten, der die London Bridge in loderndes Licht tauchte. Doch dann würde ich mich fragen, was er dachte. Ob er es mit mir bereute. Ob mein Hintern in diesem Rock fett aussah oder so. Ich schüttelte den Kopf. Und das Bild von uns verschwand.
    »Es ist nicht nur das. Es ist nicht nur wegen Bernard. Oder sogar Patrick. Es geht um dich und mich. Du warst nicht zufrieden. Jedenfalls nicht mit mir.«
    »Warum sagst du das? Ich weiß nicht, was du meinst.«
    »Mein Gewicht, meine Haare, das, was ich aß, das Auto, das ich fuhr, der Job, den ich hatte, meine Kleider. Du warst mit nichts davon jemals zufrieden.« Ich war entsetzt, als ich mich an all das erinnerte. Und angewidert, wenn ich daran dachte, wie ich das alles hingenommen hatte.
    »Das stimmt nicht. Überhaupt nicht. Alles, was ich gesagt habe, war zu deinem Besten. Das weißt du.« Ich hatte nicht einmal die Absicht, dies mit einer Antwort zu würdigen.
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