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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr
Autoren: C Geraghty
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Leute waren mir bekannt. Freunde von Patrick aus der Arbeit, von der Schule, vom College, aus der früheren Nachbarschaft, wirklich von überall her. So viele. Ich war stolz: auf sie, weil sie sich an ihn erinnerten; auf ihn, weil man sich an ihn erinnerte. Was hätte er jetzt getan, wäre er noch am Leben? Irgendetwas Unerwartetes. Konnte er uns sehen? Ich hoffte, dass er es konnte. Ich ging langsam das Seitenschiff nach vorn und erspähte in der ersten Bank meine Familie. Mam, Jack, Mary, Clare, Richard, Jane, James, Ella, Matthew und Thomas. Sie waren zusammengepfercht wie Würstchen in einer Pfanne.

    Ich drückte mich in die dritte Gangreihe von vorn, durchwühlte erneut meine Tasche und schloss meine Hand um den Brief. Er war noch immer da.
    Der Priester ging so ruhigen Schrittes zum Altar, als würde er sich auf Rädern fortbewegen. Zwei kleine Jungen in weißen Kutten begleiteten ihn. Sie hielten Glocken in den Händen und begaben sich zu den beiden Seiten des Altars. Sie knieten nieder, senkten die Köpfe. Die Glocken läuteten. Die Messe begann.
    Es überraschte mich festzustellen, dass es nicht nur Patricks Gedenkmesse war. Er teilte sie sich mit einer Frau namens Eileen O’Rourke und einem Herrn namens Hugh McLoughlin. Eileen war seit fünf Jahren tot, und der alte Hugh hatte die Welt verlassen, bevor ich überhaupt geboren wurde. Es war Patricks erstes Mal. Ich hoffte, er hätte mir bei dem, was ich vorhatte, zugestimmt. Von der Messe bekam ich nicht viel mit. Ich war abgelenkt durch das Licht, das wie Gold durch das bunte Fensterglas hinter dem Altar flutete. Ich war abgelenkt durch den Gongschlag der Glocke, als die gesamte Kirche so still wie ein Grab wurde und alle ihre Köpfe senkten. Ich war abgelenkt durch meine Mutter, die Ella die ganze Zeit über eng an sich drückte, wie einen Rettungsring. Ich war abgelenkt durch Mary, die mich entdeckt hatte und sich ständig umdrehte und mich anlächelte. Ich war abgelenkt durch Patrick, der eigentlich hätte da sein sollen, es aber nicht war. Ich konnte ihn um mich spüren – wie einen Arm, der um meine Schultern lag.
    Und dann war es fast vorbei, und der Priester begann zu sprechen. Mein Herz schlug wild in meiner Brust.
    »Wir haben uns heute hier versammelt, um den ersten Todestag von Patrick O’Brien zu begehen«, begann er in ziemlich routinierter Art. Dann schaute er auf und hüstelte
leicht in seine Hand. Die Gemeinde schien sich in den Bänken nach vorn zu lehnen.
    »Patricks Schwester Grace würde heute gern ein paar Worte zu uns sagen.« Er schaute wieder hoch, seine Augen überflogen die erste Reihe, in der meine Familie saß. Sogar von hinten konnte ich ihr Entsetzen wahrnehmen. Ihre Körper bewegten sich nicht, aber ihre Köpfe schossen wütend herum, während ihr Flüstern durch die Kirche drang. Dieses knisternde Geräusch war überall: dieses Geräusch, das Menschen von sich gaben, die erwarten, dass etwas passiert. Meine Beine fühlten sich schwer wie Blei an, als ich in meine Tasche griff und meine Hand wieder um den Brief legte. Ich stand auf. Köpfe schwenkten zu mir herum, und ich begab mich zum Altar. Ich bin mir nicht sicher, wie ich es bis dorthin schaffte, aber ich schaffte es. Schaffte es hinauf zum Altar und hinter das Lesepult, wo der Priester das Mikrofon so weit anhob, wie es nur ging, damit es mir bis zum Mund reichte. Als ich meine Lippen öffnete, um zu sprechen, brachte ich keinen Laut heraus, ich schluckte schwer und sehnte mich nach dem Messwein, der in meiner unmittelbaren Nähe stand und kaum vom Priester angerührt worden war.
    Ich räusperte mich. Es klang trocken und raspelnd und entsetzte mich und die Gemeinde, die mich anstarrte. Mir blieb nichts anderes übrig, ich begann zu sprechen.
    »Gestern erhielt ich einen Brief. Er hat einen langen Weg zurückgelegt. Abgeschickt wurde er vor mehr als einem Jahr. Ursprünglich aus Thailand. Er durchreiste so viele Länder, wie er konnte, bevor er in meiner Wohnung ankam. Ein bisschen wie sein Absender: Der Brief stammt von Patrick und erinnerte mich daran, dass man nicht erst tot sein muss, um für andere wertvoll zu sein, um noch auf gewisse Weise hier unter uns zu weilen, um wichtig zu sein,
um geliebt zu werden. Ich dachte, ihr möchtet ihn vielleicht hören.« Ich hielt inne, sah aber nicht hoch. »Wie auch immer, das hier sind seine Worte.«
    Liebe Grace,
    es ist so heiß hier. Ich kann kaum spüren, dass ich atme. In dieser glühenden Hitze werden selbst meine
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