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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr
Autoren: C Geraghty
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Und Pfannkuchen. Jeden Morgen zum Frühstück. Und so viele Bücher, wie man sich nur vorstellen konnte. Und ein Swimmingpool im Garten. Und eine Luftmatratze im Pool, die einem ganz allein gehörte und die man nicht mit Brüdern und Schwestern teilen musste.
    Mich umgab das leise Gemurmel von Menschen, die mit ihren Toten flüsterten und sprachen. Ich konnte nicht mit Patrick sprechen. Was sollte ich sagen? Ich kam ein bisschen näher und ging in die Hocke, um in meiner Tasche nach einer Zigarette zu suchen. Ob es wohl erlaubt war, auf einem Friedhof zu rauchen? Dann befahl ich mir, nicht so töricht zu sein, und entzündete ein Streichholz. In dem flackernden Aufleuchten des Lichts sah ich das Grab, es war wunderschön gepflegt, mit einer Gruppe von Rosenbüschen in der Mitte, deren Knospen dunkel, prall und schwer von den Stängeln hingen. Eine Vase mit Lilien stand am Sockel des Grabsteins. Dieses Grab hätte ein Garten sein können. Es war so gut gepflegt, dass man es bei einem Gartenwettbewerb hätte anmelden können. Ich setzte mich auf den Marmorrand, der das Grab einfasste, und wartete darauf, dass etwas mit mir geschehen würde. Ich wusste, dass ich nicht weinen, beten oder sprechen würde. Schließlich beschloss ich, mir Patrick in Gedanken bildlich vorzustellen, aber ich brauchte lange, um seine Gesichtszüge zusammenzusetzen. Sie entzogen sich mir, lösten sich auf wie Regentropfen auf einem See. Und dann war er da. Lächelnd. Mit seinen tiefen Grübchen in den Wangen. Dem
roten Haar, das sein Schlüsselbein kitzelte. Ein paar Zentimeter größer als ich.
    »Hör auf zu lächeln, Patrick«, hatte ich immer gesagt. »Mürrische Leute altern viel besser.« Mein großer Bruder, der dieses Jahr zweiunddreißig hätte werden sollen. Patrick James O’Brien. Geboren 1972. Gestorben 2004. Er zwinkerte mir immer zu und berührte mich kurz an der Schulter. Das war sein Abschied. Ich hatte mich nie von ihm verabschiedet. Jetzt spürte ich sie. Diese Berührung.
    Die Erinnerung kommt erst langsam, wie die hereinbrechende Dämmerung an einem bewölkten Tag. Es ist in Spanien, aber zum ersten Mal ist es nicht jener Tag, es ist der erste Tag.
     
    Wir befinden uns am Flughafen. Die Ankunftshalle ist ein Meer aus Körpern. Die feuchte Hitze fühlt sich auf meiner Haut wie ein nasses Hemd an, und mein Atem ist ganz heiß. Wir drei stehen da und warten. Shane schiebt seine Hand in den Kragen seines Hemds, zerrt daran, um mehr Luft zu bekommen. Er lässt seine Hand sinken und legt sie in meine. Unsere Handflächen sind feucht und heiß und geben Sauggeräusche von sich, wenn sie sich trennen. Ich lächle ihn an, noch immer kann ich nicht ganz glauben, dass er zu mir gehört. Ich möchte mich an alles erinnern.
    Der Schrei stammt von Caroline und scheint die Menge zu teilen.
    »Da ist er«, brüllt sie. Ihre Finger zeigen auf die Schiebetüren. Und da ist er. Er sieht größer aus als in meiner Erinnerung. Die Sonne hat sogar noch mehr Sommersprossen auf sein Gesicht gemalt, aber die Augen sind dieselben. Vielleicht blauer, aber lächelnd und voller Staunen über das Wunder der Welt um ihn herum. Er ist noch immer Patrick, und ich renne auf ihn zu, meine Taschen sind zu Boden gefallen
und vergessen. Er wirbelt mich herum. Er ist der einzige Mann, den ich kenne, der mich herumwirbeln kann. Selbst in meinen Absätzen reiche ich ihm nur bis zum Kinn.
    »Hallo, Grace.« Seine Stimme ist ruhig und tief und klingt, als würde er die Antworten auf alle meine Fragen kennen. Ich kann in die Tasche sehen, die er über der Schulter trägt. Der Reißverschluss ist kaputt. Es befinden sich Blätter darin, und ich erkenne die schrägen Kringel seiner Handschrift darauf. Er schüttelt Shanes Hand und umarmt gleichzeitig Caroline.
    »Es ist herrlich, zu Hause zu sein«, sagt er dann.
    »Du bist nicht zu Hause, du Verrückter«, wirft Caroline ein.
    »Es fühlt sich an wie zu Hause«, erwidert er und schaut mich auf seine typische Art an. Wir gehen zum Ausgang.

52
    Der Taxifahrer ließ mich vor der Wohnung raus, aber ich ging nicht direkt hinein. Stattdessen lief ich die Straße bis ganz oben hoch und stand da, wusste nicht, was tun. Der Himmel war klar, und ich konnte meinen Atem sehen, der sich vor meinem Gesicht sammelte. Mit meiner Hand tastete ich am Boden meiner Tasche herum nach den Zigaretten. Als ich die Schachtel endlich fand, war sie leer. Ich musste sie wohl auf dem Friedhof leergeraucht haben.
    Das Geschäft auf der anderen
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