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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr
Autoren: C Geraghty
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es tröstlich, und ich verspürte keine Angst. Eigentlich hatte ich gedacht, dass ich mich fürchten würde, vielleicht war das ja der Grund dafür gewesen, dass ich nie hierher zurückgekommen war.
    Ich ging auf die Tore zu, meine Absätze klapperten laut auf dem Pflaster. Leute wandten sich von ihren Toten ab, um zu mir herüberzuschauen, dann drehten sie sich wieder um. Nur eine weitere Trauernde, allerdings in unpassenden Schuhen. Eine Frau saß auf einem Klappstuhl und strickte im Licht einer Kerosinlampe, die neben ihr stand. Sie sprach, aber ich konnte nicht hören, was sie sagte. Sie hätte sich genauso gut in ihrem Wohnzimmer befinden können,
so sehr wirkte sie hier zu Hause. Ein Mann kniete auf einer Matte, zwischen seinen Fingern fädelten sich Rosenkranzperlen hindurch, seine Lippen bewegten sich, gaben aber keinen Laut von sich. Zwei Leute hockten auf einer niedrigen Steinmauer, die ein Grab einfasste. Sie unterhielten sich. Als würden sie sich am Freitagabend in einem Pub befinden. Leute nickten mir zu, sagten aber nichts. Vielleicht waren sie Stammgäste hier? Leute, die die Anstandsregeln des Friedhofs kannten. Nicken, aber nicht sprechen. Lächeln, aber nicht lachen. Beten, ohne einen Laut von sich zu geben.
    Ich konnte mich nicht daran erinnern, wo Patricks Grab lag. Waren die Gräber in alphabetischer Reihenfolge angeordnet? Nein, natürlich nicht. Menschen starben nicht in alphabetischer Reihenfolge. Ansonsten wären Leute, deren Vornamen mit »A« anfingen, ziemlich beschissen dran. Ich ging und ging, und mit dem Klacken meiner Absätze und dem Klappern meiner Zähne war ich die reinste Ein-Frau-Band. Der Mond schlüpfte hinter eine Wolke, und eine Eule rief, der Klang ihrer Stimme schwebte aus dem Schatten der Bäume herab. Ich fühlte mich wie in einem Traum, in dem man ständig unterwegs ist, aber nie vorwärtskommt. Und dann sah ich es. Patrick James O’Brien. Geboren 1972. Gestorben 2004. Die Inschrift zitierte Verse aus einem Gedicht, das Patrick geliebt hatte:
    Nun steh ich auf und gehe, nach Innisfree ich geh, Dort mach ich eine Hütte, aus Lehm und Rohr gebaut: Dort will ich Bohnen reihen, ein Bienkorb steht im Klee, Und allein sein im Schlag, der von Bienen laut.
    Dort werd ich Frieden spüren, denn der fällt langsam ein.

    Oben auf dem Grabstein stand Dads Name. Patrick Tomas O’Brien. Ich stand da und schaute auf das Grab. Jetzt, wo ich da war, wusste ich nicht, was ich sagen sollte oder ob ich überhaupt etwas sagen sollte.
    »Hallo, Patrick«, flüsterte ich. Ich griff in die Tiefen meiner Tasche und zog eine Miniflasche Bell’s heraus.
    »Prost«, sagte ich, bevor ich die bernsteinfarbene Flüssigkeit in der Nähe des oberen Grabrands in die Erde goss. »Entschuldige, dass ich nicht früher gekommen bin. Seit der Beerdigung, meine ich.« Ich presste meine Hand auf die Erde, dort wo ich den Whiskey ausgeschüttet hatte. Sie war warm und nass. Eine riesige schwarze Kreatur, die mehr Beine besaß, als irgendeine Kreatur haben dürfte, glitt durch meine gespreizten Finger. Ich jaulte auf und kam blitzschnell auf die Beine, bevor ich den Kribbel-Krabbel-Tanz aufführte. Er ist allgemein bekannt. Man schüttelt die Hände, bis sie am Ende der Arme nur noch verschwommen zu sehen sind. Beide Hände, egal, welche zuvor von der Kreatur berührt worden ist. Zudem läuft man auf der Stelle und schüttelt den Kopf für den Fall, dass die Kreatur der Meinung sein sollte, dieser Kopf sei ein netter Ort, um zu verweilen. Nach einer Weile stellt man jede Bewegung ein und untersucht sorgfältig sich selbst und die unmittelbare Umgebung, um festzustellen, ob es noch irgendein Anzeichen von ihm gibt (es ist immer ein er). Es gibt nie eins. Es juckt einen schrecklich – überall. Nicht nur an der Stelle auf der Hand, wo er herumgekrabbelt ist.
    Erst als ich mich beruhigte, fielen mir die anderen Leute auf dem Friedhof ein. Doch sie mussten sich an allerhand Verrücktheiten gewöhnt haben, denn sie nahmen nicht die geringste Notiz von mir.
    Nach alldem war ich todmüde, und in der Stille, die folgte, lächelte ich. Was, wenn Patrick mich wirklich sehen
könnte. Herr im Himmel, er müsste so lachen. Was, wenn es wirklich einen Himmel gäbe und der wirklich so wäre, wie ich ihn mir immer vorgestellt hatte, als ich jünger war. Voll von Pfefferkuchenhäusern (jeder hatte sein eigenes) und kleinen, mit Kopfsteinen gepflasterten Wegen, die durch Laubwälder führten, in denen keine Wölfe lauerten.
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