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Späte Schuld

Späte Schuld

Titel: Späte Schuld
Autoren: David Kessler
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Samstag, 4. Juli 2004 – 23.40 Uhr
    Es waren nur zehn Finger, die über die Tastatur flogen, und doch konnten sie so viel Böses bewirken.
    Voller Ehrfurcht sah sie zu, wie die Worte vor ihren Augen Gestalt annahmen, wie die Buchstaben auf dem Bildschirm mit ihren Fingern Schritt hielten. Am erstaunlichsten aber war, wie viel Schaden sich mit einer einzigen winzigen Veränderung anrichten ließ. Um das Verhalten eines ganzen Computerprogramms zu ändern, musste sie lediglich zwei Zeilen des Programms geringfügig modifizieren. Hacker und »Mitternachts-Programmierer« hätten sich über die absurde Einfachheit ihrer Manipulationen kaputtgelacht, und vielleicht hätten sich einige sogar über die schiere Dreistigkeit ihrer Unternehmung amüsiert. Aber nur wenige hätten ihre Ziele gutgeheißen.
    Na und?
    Sie wollte damit nicht reich oder berühmt werden. Sie wollte Gerechtigkeit – simple, altmodische Gerechtigkeit.
    Während sie weiterarbeitete, hob sie den Kopf und blickte aus dem Fenster. In der Ferne sah sie die Lichter der nächtlichen Stadt glitzern, die sie daran erinnerten, dass es dort draußen, jenseits ihrer privaten Welt der Rache, noch eine andere Welt gab. Aber sie zwang sich, die Ablenkung zu ignorieren. Im kleinen Lichtkegel der Schreibtischlampe tanzten ihre Finger weiter über die Tastatur. Der Rest des Zimmers lag im Dunkeln.
    Kurz darauf hielt sie inne und betrachtete zufrieden ihr Werk, das mit ein paar Klicks der linken Maustaste vollendet war. Sie hatte eine völlig neue Version des Programms erschaffen.
    Und was für eine neue Version!
    Fast wehmütig dachte sie an die einzelnen Arbeitsschritte zurück. Es war ziemlich kompliziert gewesen, an den Quellcode zu kommen, aber mithilfe von ein paar alten Kontakten war es ihr gelungen, die bürokratischen Hürden zu überwinden. Zum Glück besaßen viele Bundesstaaten inzwischen öffentlich zugängliche Archive oder hatten Informationsfreiheitsgesetze verabschiedet. Sie hätte sich gewünscht, das modifizierte Programm überall einschleusen zu können. Das wäre ein ziemlicher Coup gewesen. Aber sie musste realistisch bleiben.
    Anfangs hatte sie gar nicht gewusst, ob sich ihr Vorhaben überhaupt in die Tat umsetzen ließ. Sie hatte keinen festen Plan verfolgt, sondern war aus purer Neugier auf die Idee gekommen, die Software zu modifizieren. Aber nachdem sie dann das Handbuch des Programms gelesen und einem Programmierer ein paar Fragen gestellt hatte, um zu verstehen, wie die Software funktionierte, war ihr aufgegangen, wie einfach das alles war.
    Das Programm unentdeckt einzuschleusen war natürlich ein ganz anderes Problem. Es gab diesbezüglich mehrere Möglichkeiten. Eine bestand darin, sich in die verschiedenen Server zu hacken und das neue Programm hochzuladen. Aber das war riskant.
    Es gab allerdings noch eine zweite Möglichkeit, die neue Version der Software einzuschleusen, eine, bei der sie vollkommen ohne Hacking auskam. Sie konnte die Systemadministratoren dazu bewegen, die Software selbst zu installieren. Dafür musste es so aussehen, als wäre die Software die neue Version eines Programms, das ohnehin bereits benutzt wurde. Indem sie das Programm zusammen mit einem gefälschten Briefkopf per Kurier verschickte, konnte sie die Netzbetreiber täuschen und sie dazu bringen, die neue Version in der irrigen Annahme zu installieren, es handele sich um ein Upgrade der Softwarefirma. Softwaremanipulation gepaart mit psychologischer Kriegsführung.
    Jetzt würde sie es den Niggern heimzahlen.

Freitag, 5. Juni 2009 – 07.30 Uhr
    Bethel war neunzehn – zu jung, um die Sechziger selbst erlebt zu haben, und zu desinteressiert, um sich die Erinnerungen ihrer Großeltern anzuhören, zum Beispiel wie ihre Mutter auf dem Woodstock-Festival gezeugt worden war.
    Aber jetzt schallte Buffalo Springfields »For What It’s Worth« aus den Kopfhörern ihres iPods, während sie am Straßenrand stand und auf Hilfe wartete. Sie wusste wenig über die politischen Hintergründe dieses Songs und nichts über die Schließung des Nachtclubs Pandora‘s Box oder die Hippie-Unruhen vom Sunset Strip. Aber die Stimme von Stephen Stills war einfach unwiderstehlich. Es war keine große Kunst, den Gemeinschaftskundeunterricht an der Highschool komplett zu verschlafen – sogar die Hausaufgaben und Prüfungen ließen sich schlafwandlerisch absolvieren. Sie wusste ein bisschen was über den Vietnamkrieg und die Bürgerrechtsbewegung der sechziger Jahre, aber das war
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