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Süden und die Schlüsselkinder

Süden und die Schlüsselkinder

Titel: Süden und die Schlüsselkinder
Autoren: Friedrich Ani
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sein Gleichgewicht bedacht, er wollte sich nicht genieren, er wollte klar und vernehmlich sprechen. Er wollte, dass die Dinge für allezeit geklärt wurden. Dann spürte er ein Kribbeln im Unterleib. Der Drang, sich zu erleichtern, kam so gewaltig über ihn, dass er den Arm von der Mauer wegzog und sich aufrecht hinstellte. Er würde die Hose nicht öffnen, nie wieder und niemals in der Metzstraße dreiundzwanzig.
    Er war kein Pimmelschüttler, nie einer gewesen. Die Frau hatte ihn ungerechtfertigt Drecksau genannt. So nennt man keinen Polizisten, der einer Not gehorcht, wenn auch im Dienst, dachte er noch. Seine Hose wurde von innen her nass, und er presste die Beine aneinander. Der Stock fiel ihm aus der Hand, und seine Schuhe rutschten wie Schlittschuhe auf dem harten Schnee. Er hörte ein Rufen und dann Schritte im knirschenden Schnee. Jemand stellte sich vor ihn, und er sagte zu den Schuhen, die sehr robust aussahen: »Verlauf dich nicht, Adrian …«

[home]
    21
    E r tippte seinen Bericht auf dem neuen Laptop, den seine Chefin als Zweitgerät für ihr Büro angeschafft hatte, druckte zwei Kopien aus und heftete die eine in den aktuellen Detekteiordner. Den zweiten Ausdruck behielt er für seine Unterlagen.
    An diesem Donnerstagmittag war er allein im fünften Stock am Sendlinger-Tor-Platz. Zwar hatte Edith Liebergesell am Telefon zu ihm gesagt, sie würde kurz vorbeischauen, aber bisher war sie nicht aufgetaucht. Süden hatte nicht die Absicht zu warten.
    Wie viele Recherchestunden sie dem Sankt-Zeno-Haus berechnen sollte, musste sie selbst entscheiden, Süden war vierundzwanzig Stunden unterwegs gewesen, das hatte er in seinem Bericht vermerkt. Andererseits war der Junge nicht im klassischen Sinn verschwunden gewesen.
    Süden fand, dass er manche Gespräche länger als nötig hinausgezögert hatte. Warum er das getan hatte, erklärte er nicht. Gewöhnlich verlangte Edith Liebergesell fünfundsechzig Euro pro Stunde Arbeit, dazu eine Ein-Euro-Kilometerpauschale.
    Eine Zeitlang ging er wie ratlos auf und ab, warf einen Blick hinunter zum Platz, an dem sich die Autos stauten und mehrere Trambahnlinien kreuzten. Unterhalb des Fensters waren Buden und Imbissstände eines Weihnachtsmarktes aufgebaut. Eltern und Kinder schoben sich aneinander vorbei, Besucher tranken aus bemalten Keramiktassen Glühwein und Feuerzangenbowle, aus Lautsprechern erklangen Weihnachtslieder.
    Am Telefon hatte Edith Liebergesell Süden zum zweiten Mal gefragt, ob er sie und ihre Freundin morgen Abend ins Restaurant Shida begleiten wolle. Er hatte wieder abgelehnt, und sie hatte noch einmal versichert, er könne auch unangemeldet vorbeischauen.
    Vielleicht würde er am Heiligen Abend ins Augustinerstüberl gehen, wie früher oft mit Martin Heuer. Einmal hatte ein Gast einen im Netz verschnürten Christbaum dabei, und als es auf zwanzig Uhr zuging, lehnte der Baum immer noch an der Wand und der Mann am Tresen. Weder Süden noch Heuer, weder die beiden anderen Gäste noch die Wirtin drängten den Mann zur Eile, obwohl er behauptete, seine Frau würde zu Hause auf ihn warten. Auf ein friedliches Fest in diesem Haushalt setzte im Stüberl sowieso niemand mehr einen Cent. Gegen neun Uhr packte der kleinwüchsige Mann den Baum, bugsierte ihn brummend zur Tür hinaus, die Süden ihm aufhielt, und taumelte wie Jesus mit der falschen Last die Tegernseer Landstraße in Richtung U-Bahn-Station hinunter. Darauf brauchten die Verbliebenen erst einmal einen Schnaps, und weil Weihnachten war, einen zweiten und dritten. Um Punkt zehn verkündete die Wirtin, sie müsse jetzt ihre Mutter besuchen gehen. Süden, Heuer und die beiden Männer am Tresen, von denen der eine zwischendurch eingeschlafen und wieder aufgewacht war, warfen sich grüblerische Blicke zu, hoben halbwegs ihre Gläser, und alle außer Süden zündeten sich eine Zigarette an. Um elf erklärte die Wirtin erneut, sie müsse jetzt ihre Mutter besuchen, und Martin Heuer fragte allen Ernstes, ob er und seine Freunde sie begleiten sollten, wegen Weihnachten und dergleichen. Etwa eine Stunde dachte die Wirtin darüber nach, dann sagte sie: Besser nicht.
    Süden hatte vergessen, wann sie die Kneipe verlassen hatten. Feierlich bebiert drehte sich einer der beiden Männer, deren Namen niemand mehr wusste, um die eigene Achse und ging los, direkt auf das Fenster zu und knallte dagegen. Niemand verstand, wieso. Der Mann schnaufte, schüttelte den Kopf und verbeugte sich. Dabei schlug er wieder mit der
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