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Süden und die Schlüsselkinder

Süden und die Schlüsselkinder

Titel: Süden und die Schlüsselkinder
Autoren: Friedrich Ani
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der mal schnell Zigaretten holen ging und dann nicht wiederkam.«
    »Auf dem Friedhof lügen ist verboten.«
    »Wer verbietet so etwas?«
    »Darum geht’s jetzt nicht. Das passiert doch dauernd, dass einer sagt, ich geh Zigaretten holen und taucht dann ab. Das ist doch der Klassiker.«
    »Nicht in dem Dezernat, in dem ich gearbeitet habe.«
    »Wo ist dieses Dezernat? In Passau, wo die Todesstrafe aufs Rauchen steht?«
    »Bitte?«
    »Sie waren bei der Kripo?«
    »Ja.«
    Eddi zog die buschigen Brauen hoch und wippte in den Knien. Beinah wäre er aus seiner Geschichte gefallen. »Hab ich also Zigaretten geholt. Hab mich ins Taxi gesetzt und bin ins Rote Haus in Freimann, zum Haberl. Die Frauen da kannte ich alle, jede einzelne. Hab zum Haberl gesagt, ich brauch Asyl, hat er gesagt: kein Problem. Hab ich einen Monat im Roten Haus logiert. Hab früher für den Haberl gearbeitet, als er noch in Augsburg einen Laden hatte. Vermisst. Und was passiert? Kein Mensch hat nach mir gesucht, auch nicht die Polizei, Herr Kripo. Die Elvira hat keine Anzeige erstattet, kannst du dir das vorstellen? Ich war weg, ich hätt ja ermordet sein können oder irgendwo rumhängen, also an einem Baum. Selbstmord aus ehelicher Verzweiflung. Nichts. Der war das gleich. Nach einem Monat klingel ich an der Tür, da macht sie auf und schaut mich genauso blöd an wie an dem Abend, als ich weg bin. Und weißt du, wer mich als Einziger vermisst hat? Als Einzigster überhaupt?«
    Süden sagte: »Dein Kanarienvogel.«
    »Du hast einen Vogel. Der Jackl, unser Rauhhaardackel. Der war inzwischen gestorben. Ich hab mit dem Tierarzt gesprochen, der hat gesagt, der Hund ist eingegangen, weil er es nicht verkraftet hat, dass ich nicht mehr da bin. Der Jackl hat mich vermisst, sonst niemand. Und er ist gestorben deswegen. Der Jackl war der Kollateralschaden von meinem Verschwinden, so was macht dich fertig.«
    Er betrachtete den Grabstein, entzifferte den Namen. »Heuer? Und wie heißt der nächstes Jahr?«
    Der Witz hatte einen Bart von Giesing bis nach Helgoland, und Süden sagte: »Neujahr.«
    Eddi hatte gleich geahnt, dass das ewige Vermissen dem Selbstgesprächler den Verstand raubte.

[home]
    23
    A uf der Fensterseite war nur noch ein Platz frei. Er setzte sich zu einer Frau um die siebzig, die Kaffee trank und einen cremigen Kuchen aß.
    Die meisten Gäste im »Dinea« – zu seiner Zeit als Kommissar hatte das Restaurant noch keinen Namen gehabt, und es hatte nicht einmal ausgesehen wie eines – waren über sechzig und aßen cremigen Kuchen und tranken Kaffee.
    An der offenen Küche gab ein Koch warmes Essen aus, Variationen von Fleisch, Gemüse und Fisch. Auf einem Büfett reihten sich Teller und Schalen mit Salaten getrockneter Früchte, eingelegten Oliven und Artischocken, belegten Baguettes, Brezen, Semmeln, Kuchen und Süßspeisen.
    Ohne genau hinzusehen, so wie früher, stellte Süden sich ein skurriles Gemisch aus gewürfeltem Schinkensalat in Curry-Sahnesauce, einem in Streifen geschnittenen, mit Essig und Öl angemachten Salat aus Regensburgern und einem Salat aus geschnittenen Gurken und Tomaten zusammen, garniert mit Mais, Paprika, Schafskäsestückchen und Oliven. Dazu nahm er einen Kornspitz und eine Mohnsemmel.
    Nach seinem Friedhofsbesuch war er mit der U-Bahn zum Sendlinger-Tor-Platz zurückgefahren, in der vagen Absicht nachzusehen, ob Edith Liebergesell inzwischen in ihrer Detektei aufgetaucht war. Doch dann lief er die Sonnenstraße hinunter, bärenhungrig und festtagsfern, und steuerte, schneeflockenbeschwingt, einen Verweilort aus der guten Zeit an.
    Die alte Frau am Tisch sah erst auf seinen Teller, dann ihm ins Gesicht. Sie wollte etwas sagen. Dann nickte sie und trank einen Schluck Kaffee. Unauffällig warf sie Süden immer wieder einen Blick zu, und er tat, als würde er es nicht bemerken. Er schaute aus dem Panoramafenster.
    Im weißgrauen Dezemberlicht schimmerten die grünen Kuppeln der Frauenkirche, matt leuchtend die gelbe Fassade der Theatinerkirche zwischen dunklen Gebäuden und mit Planen verhängten Baustellen. Kräne und Handymasten ragten in den Himmel, vereinzelt auch sich im eigenen Glaskörper spiegelnde Büro- oder Bankenkomplexe.
    Weitläufig und großstädtisch, überschaubar und vertraut, dachte Süden, wirkte die Stadt von hier oben. Hinter schalldichten Fenstern spielte sich still und genügsam das tägliche Geschehen ab.
    »Sie!« Die Frau zupfte an der rot-gelb gestreiften Strickjacke, die sie über dem
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