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Süden und die Schlüsselkinder

Süden und die Schlüsselkinder

Titel: Süden und die Schlüsselkinder
Autoren: Friedrich Ani
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erfahrene Therapeutin. Zum einen hatte sie dem eher phlegmatischen, in sich gekehrten Jungen einen solchen Schritt nicht zugetraut. Zum anderen hatte er in den vergangenen Tagen von nichts anderem gesprochen als von seiner Vorfreude auf Weihnachten und davon, wie schön es für ihn sei, dass auch seine besten Freunde Nepomuk und Bastian nicht nach Hause gehen mussten, sondern im Zeno-Haus bleiben durften.
    Adrian nannte es »nach Hause gehen MÜSSEN «, weil für ihn der Heilige Abend, wie Ines Hermann mühsam herausgefunden hatte, so etwas wie eine Strafe war. Nepomuk und Bastian dagegen würden sofort aufspringen und losrennen, wären ihre Eltern in der Lage, auch nur einen Schritt auf sie zuzugehen und ihre rabiaten Egoismen und gegenseitigen Verachtungsmechanismen wenigstens für zwei Tage zu überwinden.
    Ines Hermann hätte dem Tänzeln der Schneeflocken vor dem Fenster weiter zugesehen, wenn Fanny die Stille nicht unterbrochen hätte.
    »Der Adrian kommt vielleicht schon wieder.«
    Fanny, dachte die Erzieherin Karla oft, lebte in einer Welt, in der nichts sicher war, vieles schien möglich zu sein – zum Beispiel, dass ihre Mutter anrief –, aber dann auch wieder nicht. Deswegen tauchte in jedem zweiten Satz von ihr ein »vielleicht« auf, für Fanny wahrscheinlich das logischste Wort der Welt.
    »Was hat er dir erzählt?«, fragte Ines Hermann, die links neben dem Mädchen saß. Fanny sah sie nicht an, sie spielte mit ihrem rosafarbenen Handy und drückte es an sich wie ein Baby. »Wieso hast du ihn nicht daran gehindert wegzulaufen?«
    »Adrian ist nicht weggelaufen, er ist gegangen …«
    »Zu seinem Opa.« Karla Tegel saß dem Mädchen schräg gegenüber, links neben ihr der neunjährige Nepomuk und neben ihm die Erzieherin Yasmin Ebert.
    »Ja, schon.«
    »Und?«
    »Sein Opa ist doch schon tot, hast du das vergessen, oder was?«
    »Ich habe es nicht vergessen«, sagte Karla Tegel mit ruhiger Stimme. Sie warf einen Blick zur gelben Couch unter dem Fenster, auf der der achtjährige Bastian und die neunjährige Clarissa saßen, regungslos, mit zusammengepressten Lippen und blassen Gesichtern. Bastian umklammerte seinen grauen Stoffelefanten, Clarissa zupfte ununterbrochen am Dirndl ihrer blond gelockten Puppe.
    »Ich wiederhole noch einmal«, sagte Ines Hermann zu Fanny. »Du hast nicht mit eigenen Augen gesehen, wie Adrian das Haus verlassen hat. Und du, Nepomuk, hast auch nichts bemerkt.«
    Der Junge schüttelte den Kopf.
    »Du hast halt einen Mordsschlaf«, sagte Yasmin Ebert.
    Nepomuk schüttelte weiter den Kopf, hielt inne und nickte mehrere Male. Yasmin anzuschauen, traute er sich nicht. Die großen kohleschwarzen Augen der Achtunddreißigjährigen strahlten eine Eindringlichkeit aus, die manchen Kindern Furcht einflößte, zumindest bei den ersten Begegnungen. Zudem war Yasmin Ebert eine für ihren Beruf ungewöhnlich wortkarge Frau, was Nepomuk manchmal derart verstörte, dass er zu stottern anfing. Er dachte, er müsse augenblicklich so viel wie möglich erzählen und Dinge zugeben, die er nicht getan hatte.
    Über die Erzieherin hatte er schon öfter mit Adrian gesprochen, abends im Zimmer, wenn niemand mehr hereinkam. Wie Verschwörer kauerten sie dann vor Adrians Bett auf dem bunten Teppich, zogen die Bettdecke über die Köpfe und tuschelten und rätselten über Yasmins garantiert finstere Vergangenheit. Wenn sie schließlich ins Bett krochen und jeder seine eigene Bettdecke über den Kopf zog, erschien ihnen Yasmin noch unheimlicher als zuvor.
    Erst gestern Abend hatten sie wieder flüsternd nebeneinandergehockt und keine Erklärung gefunden, wieso Yasmin an diesem Tag so wenig geredet und so brutal viel geschaut hatte.
    »Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir glauben kann.« Das Gesicht von Ines Hermann zeigte eine Strenge, die jeder im Raum kannte und die Kinder schlagartig verstummen ließ. Auf diese Wirkung war die Therapeutin jedes Mal ein wenig stolz.
    Sie sah Fanny so lange an, bis das Mädchen den Kopf hob. »Was hat Adrian dir anvertraut?«
    »Er hat gesagt, er geht weg.« Fanny bemerkte, dass Nepomuk sie anstarrte, aber sie ließ sich nichts anmerken. Dass sie offensichtlich mehr wusste, als sie zugeben wollte, blieb den Erzieherinnen nicht verborgen, andererseits hofften sie gerade deshalb darauf, dass Adrian nicht einfach ausgerissen war, sondern ein bestimmtes Ziel verfolgte und danach wohlbehalten zurückkehren würde.
    Fanny zögerte einen Moment, dann stand sie auf, stemmte
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