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Süden und die Schlüsselkinder

Süden und die Schlüsselkinder

Titel: Süden und die Schlüsselkinder
Autoren: Friedrich Ani
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    1
    D er Tag, an dem sein Vater ihn im Zeno-Haus abgab, war heute.
    Der Tag war immer heute. Der 18. November war jeden Tag, seit ungefähr einem Monat. Und wenn es schneite, so wie heute, dann erst recht.
    Welcher Tag genau heute war, wusste Adrian nicht, interessierte ihn auch nicht. Für ihn fing jede Nacht gegen elf der 18. November an. So war das. Karla, die Erzieherin, meinte, das wäre nicht schlimm, wichtig sei, dass er sich aufgehoben fühle und keine Angst mehr vor der Dunkelheit habe. Das stimmte. Er hatte keine Angst mehr, jedenfalls solange im Flur ein Licht brannte, das er durchs Schlüsselloch sehen konnte. Von seinem Bett aus hatte er die Tür gut im Blick, und wenn er einschlief, war das Licht immer noch da.
    Wegen Adrian und der Sache mit der Dunkelheit lag Nepomuk seit einem Monat andersherum im Bett und schaute zum Fenster. Falls er überhaupt wo hinschaute. Nepomuk schlief schneller ein als der Opa Arnulf, von dem Adrian erzählte und den der immer in seiner Schreinerei in der Sedanstraße besucht hatte. Opa Arnulf brauchte sich bloß in seinen alten roten Sessel zu setzen, schon fing er an zu schnarchen. Manchmal saß Adrian dann noch auf seinem Schoß.
    Wenn Adrian an seinen Opa und dessen brummige Stimme dachte, wurde er so traurig, dass er glaubte, die Tränen liefen ihm aus den Ohren. Dagegen konnte er nichts tun, außer sich die Ohren zuzuhalten und die Augen zuzukneifen. So wie jetzt.
    Dabei hatte er jetzt keine Zeit, an seinen toten Opa zu denken. Er war auf der Flucht und musste aufpassen, dass niemand ihn erwischte. Karla, die Nachtdienst hatte, war in der Küche gewesen, als er mit leisen Schritten verschwand, in seinem roten Anorak, die blaue Mütze tief in die Stirn gezogen. Sein Plan funktionierte.
    Das einzig Blöde war, dass er Gängsta, seinen Elch, in der Aufregung vergessen hatte. Das hatte er nicht geplant.
    Als die sechsundvierzigjährige Erzieherin Karla Tegel ins Zimmer kam, um die beiden Jungen zu wecken, war Adrian schon unsichtbar für alle.
    Heute, dachte er, und den Gedanken hatte er schon die ganzen letzten Tage heimlich gehabt, würden seine Eltern für ihn zum letzten Mal der 18. November sein.
    Und weil er Fanny etwas versprochen hatte, zog er das silberne Handy aus der Anoraktasche, tippte ihre Nummer und schrieb:
liebe fanny, ich fahr jetz mit der strasenbahn zum opa anulf. serwus.
     
    »Von welchem Handy hat er das geschrieben?«, fragte Karla Tegel die elfjährige Fanny.
    »Weiß nicht.«
    »Und wann hast du die Nachricht bekommen?«
    »Vorher.«
    »Wann vorher?« Karla dachte hundert Dinge gleichzeitig, während sie mit dem Mädchen die Treppe ins Erdgeschoss hinunterging, wo an einer Tafel die wichtigen Telefonnummern hingen.
    »Vor einer halben Stunde, ungefähr.«
    »Und warum sagst du mir erst jetzt Bescheid?«
    »War auf dem Klo. Hab doch das Handy bloß eingeschaltet, damit vielleicht die Mama anruft.«
    »Zeig mal her.« Die Erzieherin nahm Fanny das Gerät aus der Hand und las die Detailangaben:
Empfangen:
7
:
13
:
43
, Heute.
Darüber stand der Name des Handybesitzers: Karla Tegel.
    Sofort tippte sie ihre Nummer, aber es sprang nur die Mailbox an. Zehn Minuten später versuchte sie es erneut, wieder ohne Erfolg. Diesmal hinterließ sie eine Nachricht. Er möge sich melden, alle im Haus würden sich große Sorgen machen. Noch während sie redete, wusste sie, er würde nicht zurückrufen.
     
    Sie saßen im Gute-Wünsche-Raum im Halbkreis, die Hände im Schoß gefaltet, eine Weile schweigend und ohne einander anzusehen.
    Für die Leiterin des Sankt-Zeno-Hauses, die einundfünfzigjährige Familientherapeutin Ines Hermann, zählte das Verschwinden eines Kindes zunächst nicht zu den schlimmsten Zwischenfällen, die sie sich vorstellen konnte oder bereits erlebt hatte. Väter oder Mütter, die ins Haus einzudringen und ihr Kind zu entführen versuchten, oder Kinder, die in die Küche stürzten und mit gezückten Messern wieder herauskamen, gehörten zu jenen Erfahrungen, die keine der Mitarbeiterinnen ein zweites Mal machen wollte. Dass ein Kind aus lauter Heimweh weglief, war in den siebzehn Jahren, seit das Haus existierte, schon ein paarmal vorgekommen, und immer endete der Ausbruch mit einem halbwegs versöhnlichen Ende. Das bedeutete, das Kind kehrte in die Gruppe zurück und akzeptierte die – vorübergehende – Trennung von den Eltern, wenn auch mit einer Narbe im Herzen.
    Das Verschwinden des zehnjährigen Adrian verwirrte die
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