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Sanfter Mond über Usambara

Sanfter Mond über Usambara

Titel: Sanfter Mond über Usambara
Autoren: L Bach
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Mai 1906
    Charlotte Johanssen lehnte den schmerzenden Kopf gegen das Polster und schloss die Augen, um sich für einen Moment dem gleichmäßigen Rattern des Zuges zu überlassen. War sie erschöpft? Nein, es war eher ein Zustand unruhiger Anspannung, eine seltsame Mischung aus Freude und Bangigkeit, die sie schon seit dem Morgen plagte und die sich steigerte, je näher sie ihrem Ziel kamen.
    Hin und wieder war der lang gezogene Pfiff der Lokomotive zu vernehmen, manchmal wehten auch weißliche Dampfschleier am Fenster vorüber, doch sie konnten den Anblick der grün und grau gewürfelten Ebene Ostfrieslands kaum beeinträchtigen. Flach dehnte sich das Land ihrer Heimat bis hin zum Horizont, Äcker und Wiesen, von lindgrünen Hecken oder schmalen Gräben unterteilt, hie und da sah sie ein paar blühende Obstbäumchen, Kühe, Schafe, dann wieder ein kleines Wäldchen, ein graues Dorf mit spitzem Kirchturm.
    » Mama, sind wir jetzt bald in Leer? « , fragte ihre Tochter Elisabeth, die vor einem guten halben Jahr sechs geworden war.
    Es klang unwirsch– das Mädchen war nach der wochenlangen Reise erschöpft und quengelig. Es hockte Charlotte gegenüber auf der Kante des Sitzes, stützte sich dabei mit beiden Armen auf dem Polster ab und starrte missmutig auf die vorüberziehende Landschaft. Sie hatte sich das alles viel großartiger vorgestellt, viel bunter und fröhlicher. Nicht mal Elefanten gab es hier, nur fette schwarz-weiße Kühe, und auf den Äckern hatte sie weiße Frauen und Kinder gesehen, die dort arbeiten mussten, dabei war das doch eigentlich Sache der Schwarzen. Nun, in Afrika, wo sie auf einer großen Plantage am Kilimandscharo gelebt hatte und dort sogar geboren war, war eben alles anders gewesen.
    » Es dauert nicht mehr lange « , beschwichtigte Charlotte die Kleine. » Magst du noch einen Schluck Tee trinken? Es sind auch noch ein paar Kekse übrig. «
    » Nein, danke… «
    Elisabeth schnitt eine Grimasse, die deutlich machte, dass es nichts Widerwärtigeres auf der Welt geben konnte als trockene Reisekekse und kalten Tee. Sie rückte noch ein wenig näher ans Fenster heran und spitzte die Lippen.
    » Tu es bitte nicht, du Wildfang! « , warnte Charlotte, die genau wusste, was das zu bedeuten hatte: Elisabeth liebte es, mit dem angeleckten Zeigefinger auf die gläsernen Scheiben zu malen.
    Ein tiefer Seufzer war die Antwort. Die Kleine rutschte zurück auf die Bank und presste den Rücken gegen das Polster, die Beine vorgestreckt auf dem breiten Sitz. Unglücklich zupfte sie an den kratzigen Baumwollstrümpfen, die ihre Mutter ihr verordnet hatte, dann drehte sie die Füße hin und her, um die hellbraunen Halbschuhe aus Leder genauer zu besehen. Auch sie waren neu, robust und schrecklich plump, lange nicht so hübsch wie Mamas Schuhe, die zierlich geformt waren und einen halbhohen Absatz hatten.
    Der Zug bewegte sich schnurgerade nach Süden. Heute früh waren sie in Hamburg losgefahren und hatten für die Weiterfahrt in Bremen in einen anderen Zug gewechselt. Da war es lustig gewesen, denn in ihrem Abteil hatte eine junge Frau mit zwei kleinen Mädchen gesessen, dazu ein Student und ein älterer Herr mit hohem Hut. Aber die waren alle in Emden ausgestiegen, und jetzt war es einfach nur todlangweilig.
    » Wenn wir in Leer sind, wirst du deine Cousins kennenlernen. Ettjes Jungen sind alle in deinem Alter… «
    » Jungen « , murrte Elisabeth und wackelte mit den Füßen. » Was soll ich denn mit denen? «
    » Nun, auf der Plantage hast du auch mit Jungen gespielt, es wird dir schon nicht langweilig werden. «
    Charlotte versuchte, die Haarnadeln in ihrer Frisur anders zu stecken, damit sie den Kopf besser anlehnen konnte. Auch das runde, dunkelrote Hütchen, das George ihr gestern in Hamburg gekauft hatte, weil es so wundervoll zu ihrem schwarzen Haar passte, musste weiter nach vorn geschoben und neu befestigt werden. Wenn doch diese lästigen Kopfschmerzen endlich nachlassen würden!
    » Ihr werdet schon miteinander auskommen. Und dann ist da auch noch die kleine Fanny, die Tochter von Cousin Paul und seiner Frau Antje, die muss jetzt schon fast vier sein. «
    » Phhh! Ein Baby… «
    » Es wird dir gefallen, Elisabeth. Sie freuen sich doch alle auf dich, und ganz besonders die Großmutter! «
    » Ich wäre lieber wieder zu Hause. «
    Die Kleine wischte sich mit einer fahrigen Bewegung über die Augen. Sie hatte die lange Seereise von Daressalam bis Hamburg erstaunlich gut überstanden.
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