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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken
Autoren: Cornelia Franz
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MS Alaska, Nordatlantik, Sommer 2020
    Es war eine klare, wolkenlose Nacht, in der Jonathan Querido in einem Liegestuhl an Deck der Alaska saß und versuchte, die Panik in den Griff zu bekommen, die ihn aus seiner Kabine getrieben hatte. Er konzentrierte sich auf seinen Atem und lockerte die verkrampften Hände. Das schwerfällige Wiegen des Schiffes war hier kaum noch zu spüren. Für einen Moment konnte er sich einbilden, zu Hause auf dem Balkon zu sitzen, wo er manchmal die frühen Morgenstunden verbrachte, wenn er nicht schlafen konnte. Doch das grenzenlose Flimmern dort oben, diese Weite, die einen aufsaugte, wenn man zu lange hinaufschaute, hatte nichts mit dem Hamburger Großstadthimmel gemeinsam. Es war ein Himmel, wie er ihn in einem anderen Leben gekannt hatte.
    Jonathan presste die Finger gegen die Schläfen. Die dritte Nacht an Bord und wieder hatte er es nicht geschafft. War erstickt in der Schwärze der Kabine, der schalen Luft, ausgeliefert dem Stampfen der Motoren im Bauch des Schiffes. An der Leuchtanzeige seines Handys hatte er erkannt, dass es erst halb vier Uhr morgens war. Kaum drei Stunden Schlaf. Kein Wunder, dass er sich wie erschlagen fühlte. Er hatte versucht, ruhig zu atmen, gleichmäßig und tief, so wie er es vom Judo kannte. Doch die Panik war in ihm angeschwollen. Verzweifelt hatte er den Schalter gesucht, bis er ihn schließlich fand und dasLicht anging. Reiß dich zusammen, hatte er sich gesagt, du hast ein Recht, hier zu sein, Jonathan. Du bist hier vollkommen sicher, du kannst dich frei bewegen, kannst jederzeit aufstehen, atmen, leben.
    Es hatte nicht funktioniert, die Geister hatten sich nicht durch Vernunft verjagen lassen. Er war aus der Kabine gestürzt, den Gang hinunter, die Treppe hoch, obwohl es sinnlos war. Die Geister sind mächtiger, auch wenn du nicht an sie glaubst.
    Als er vor vier Tagen im Hamburger Hafen, der nach der Sturmflut des vergangenen Herbstes noch immer nicht völlig instand gesetzt worden war, über die Gangway gegangen war, hatte es angefangen. Natürlich war er aufgeregt gewesen, die Alaska zu betreten, nervös und beklommen. Doch dass sich hier an Bord eine erdrückende Angst in ihm ausbreiten würde wie eine lang schwelende Krankheit, die man nicht mehr ignorieren konnte, damit hatte er nicht gerechnet. Nicht nach so langer Zeit. Unter freiem Himmel trieb die Seeluft die Angst aufs Meer, und wenn er so wild durch den Pool kraulte, dass die älteren Damen hinter ihm herschimpften, vergaß er sie manchmal sogar. Aber sobald es still und dunkel um ihn wurde, war sie wieder da. Ein Gefühl, das stets gleich ablief. Wie ein Film, bei dem es keine Möglichkeit gab, Szenen zu überspringen. Oder am besten für immer zu löschen.
    Als Erstes die Furcht, entdeckt zu werden. So wie als Kind beim Versteckenspielen, wenn er im Gebüsch auf dem Boden gelegen und auf die näher kommenden Stimmen der anderen Kinder gelauscht hatte, das Gesichtin den Armen vergraben. Ein nervöses Kribbeln, das sich ganz gut in den Griff bekommen ließ. Dann plötzlich die schreckliche Erkenntnis, das Falsche getan zu haben, nicht alles bedacht zu haben, gefangen zu sein und nicht rechtzeitig herauszukönnen. Ein Druck auf den Schläfen, immer stärker, ein stolpernder Herzschlag. Und dann kam die Panik.
    Jonathan umklammerte die Armlehnen des Liegestuhls und presste die Lippen aufeinander. Wie hatte er nur so unglaublich naiv sein können, auf der Alaska zu buchen? Er sah hinaus auf das Meer, das in den wenigen Minuten, die er hier saß, seine Schwärze verloren hatte. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber der Himmel leuchtete schon so hell, dass die Sterne zusehends verblassten. Er hatte die Nacht überstanden. Keine zwölf Stunden mehr, dann war diese Fahrt zu Ende. Jetzt spürte er plötzlich, wie müde er war. Er gab seiner Erschöpfung nach und glitt in einen traumlosen Schlaf.
    »Inuugujoq, kumoor ...«
    Jonathan zuckte zusammen. Benommen drehte er den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam. Eine Frauenstimme. »Inuugujoq, kumoor«, antwortete er, ohne zu überlegen. Dann war er endgültig wach. Was hatte er da gesagt? Woher kamen diese Worte? Worte, die er vergessen hatte und die dennoch da gewesen sein mussten, irgendwo in ihm, versteckt in der Tiefe seines Unterbewussten. Eine einzige Bemerkung hatte genügt, sie hervorzulocken.
    Er starrte geradeaus und versuchte, die Frau zu ignorieren. Doch er nahm sie aus den Augenwinkeln wahrund es war ihm klar, dass sie
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