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Süden und der Luftgitarrist

Süden und der Luftgitarrist

Titel: Süden und der Luftgitarrist
Autoren: Friedrich Ani
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Straßenseite. Ohne sich umzudrehen, hob Martin den Arm und ballte die Faust.
    Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit glaubte ich, dass er so etwas wie Glück empfand.
    »Spiel jetzt«, sagte ich.
    Ich griff nach Sonjas Hand, und sie wehrte sich nicht. Martin ging vor uns her, federte in den Knien, schlenkerte mit den Armen, wie um sich zu lockern, zuckte mit den Schultern. Vor uns teilte sich das Meer, die Menge machte Platz für The Jeepster und seinen lästigen Anhang.
    »Du schaffst es, Mann!«, rief ihm ein rothaariger junger Kerl vom Tresen aus zu.
    »Hallo, Knightfish!« Im Getümmel quetschte ich mich an ihm vorbei. Wie seine Kumpane hatte auch Ingo wieder den Weg in die Sendlinger Kneipe gefunden, einige feuerten Martin an, andere Edward Loos, den ich noch nirgends erblickt hatte.
    »Wie weit willst du noch nach vorn?«, schrie mir Sonja ins Ohr. Die donnernde Musik schien das Bier in meinem Bauch aufzuschäumen.
    »Zum Notausgang!«, brüllte ich zurück. In der Nähe der Bühne leuchtete ein grünes Schild über einer Tür. Von dort hatte man nicht die beste Sicht auf die Akteure, aber das war Sonja noch mehr egal als mir. Zum Test drückte ich die Klinke. Die Tür war nicht abgesperrt.
    An einem Tisch unterhalb der Bühne saßen fünf Männer um die zwanzig mit einem Berg Zetteln vor sich, die Jury, deren Sprecher sich Cargo nannte. Er hatte eine blonde Rastafrisur und trank ausschließlich rote Traubensaftschorle. Jetzt stand er auf, griff nach einem kabellosen Mikrofon und lächelte einen Pulk von Mädchen an, die vor ihm auf dem Boden hockten.
    »Siehst du Martin irgendwo?«, fragte Sonja. Ich sah ihn nicht. Vermutlich hielt er sich hinter der Bühne auf, dort, wo schon an den vergangenen Abenden die Akteure saßen und auf ihren Auftritt warteten. Am Dienstag, bei der ersten Runde, waren es fünfzig, die, aufgeteilt in zehn Gruppen, ihr Programm absolvierten, jeweils zwei aus jeder Gruppe kamen weiter. Diese zwanzig Spieler traten am nächsten Abend in fünf Gruppen auf, bis schließlich in der dritten Runde fünf Gitarristen um den Einzug ins Finale wetteiferten. Die Auswahl und die Länge der Songs oblag den Teilnehmern, Martin hatte sich für Lenny Kravitz, Eric Clapton und die unfassbaren Guns’n’Roses entschieden, und er spielte seine Konkurrenten alle an die Wand. Es war, als brauche er nur einen Akkord anzudeuten, und die Menge geriet in Verzückung. Sie jubelte einem dreiundvierzigjährigen Hänfling in einer Schlangenlederjacke zu, aus dessen Fingern reine Energie zu fließen und sich bis zum letzten Zuhörer hin auszubreiten schien. Von seiner sonstigen Bedrücktheit, seiner Weltverlorenheit, seinem Hang zur Bewegungslosigkeit und Verzagtheit war nichts zu spüren, die Musik, und sie war stellenweise bösartig laut, katapultierte ihn in einen Bereich von Schwerelosigkeit, die ich bei ihm niemals für möglich gehalten hätte. Natürlich wusste ich von seinem Hobby, und auf manchen Weihnachtsfeiern hatte er Kostproben seines Könnens gegeben, aber es war mir nicht klar gewesen, welches Feuer das Luftgitarrespielen in ihm entfachte. Vollkommen ernsthaft, auf jeden Akkord konzentriert und gleichzeitig ekstatisch bis zur Erschöpfung interpretierte er die Songs auf eine eigene, unerhörte Weise, ich sah, wie seine Hände und Arme vibrierten, wie er mit den Beinen um sich schlug, die Augen schloss und aufriss, den Oberkörper kreisen ließ, über die Bühne stolzierte und sprang und turnte und federte, und je länger ich hinsah und mich von seiner bei aller Kantigkeit und Wildheit absolut harmonischen Darbietung mitreißen ließ, desto deutlicher hörte ich, wie sich der Song, der aus den Lautsprechern schallte, von Zeile zu Zeile, von Strophe zu Strophe veränderte und in eine Coverversion verwandelte, die ich hinterher gern auf CD oder noch besser auf Schallplatte gekauft hätte. Martin spielte auf einer schlichten sechssaitigen schwarzen Fender, die er am Ende, während er sich vorbeugte, über den Kopf hielt, und dann behutsam in die Ecke hinter der Bühne stellte. Und das wirklich Einmalige an seinen Auftritten war, dass er sie nicht allein bestritt.
    »Ladys and gentlemen!«, rief Cargo ins Mikrofon, nachdem er es geschafft hatte, das Publikum einigermaßen zur Ruhe zu bringen. Die Musik war verstummt, ein Spot fiel auf die Bühne, überall klirrten Flaschen, die gegeneinander geschlagen wurden. »The first finalist!«
    Grölender Jubel, Beifall, Rufe und Pfiffe.
    »Ich sterb gleich«,
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