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Süden und der Luftgitarrist

Süden und der Luftgitarrist

Titel: Süden und der Luftgitarrist
Autoren: Friedrich Ani
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Ähnlichkeit mit dem Mann auf dem schwarzen Marmortisch. Der Mann auf meinem Bild war jung und vital, mit einer Aura von Zuversicht, der Mann auf dem Marmortisch war alt, einunddreißig Jahre alt, und tot. Bis zum Kinn war sein Körper mit einem weißen Leintuch bedeckt, sein Gesicht sah aus wie vor langer Zeit versteinert. Dr. Ekhorn hatte seine blauen Gummihandschuhe anbehalten und mir zur Begrüßung den Unterarm hingehalten. Er obduzierte und sezierte seit mehr als fünfzehn Jahren Leichen, die meisten im Auftrag der Mordkommission, ab und zu auch für andere Abteilungen.
    »Hier haben wir zur Abwechslung eine eindeutige Angelegenheit«, sagte Ekhorn und schlug das Tuch über der Leiche bis zu den Waden zurück. »Die typische Verfärbung im Bereich der Knievorderseiten, blaurot, das sehen Sie hier deutlich, Retraktion des Penis durch Kälteeinwirkung, hier weitere hellrote Flecke, hier die fleckförmigen geschwollenen Hautstellen und so weiter. Die Magenschleimhaut hab ich noch nicht untersucht, wie gesagt, unsere Freunde vom Mord haben es wieder eilig, ich schneide Ihren Mann am Nachmittag auf, aber ich rechne nicht mit einer Überraschung. Er ist erfroren, kein Zweifel, Todesursache Herzkammerflimmern.«
    »Wann?«, sagte ich.
    »Vor einer Woche, sechs Tage, eventuell sieben. Ihre Kollegen haben ihn in einem Auto gefunden, nicht wahr?«
    »Der Autobesitzer hat die Leiche entdeckt«, sagte ich. »Er war nach einem Skiunfall vier Wochen im Krankenhaus gelegen, in dieser Zeit stand sein Wagen auf der Straße…«
    In der Bechsteinstraße, in unmittelbarer Nähe des Areals am Rand des Luitpoldparks, das Martin und ich an diesem Morgen abgesucht hatten.
    »… ein Volvo, der völlig eingeschneit und vereist war. Niemand hat was bemerkt. Aladin Toulouse hat ein Türschloss geknackt und sich reingelegt. Ich habe vorhin den Bericht der Kollegen gelesen. Und da stand etwas, das ich nicht verstehe.«
    »Sie meinen seine Kleidung«, sagte Dr. Ekhorn.
    »Seine Kleidung«, sagte ich. Der Kollege hatte geschrieben, der Tote habe einen gelben Hut und eine Sonnenbrille getragen, aber sonst…
    »Sonst fast nichts«, sagte der Gerichtsmediziner und zog das Tuch über das Gesicht des Toten. »Das kommt vor, dass sich Erfrierende hochgradig unlogisch verhalten. Sie tun zum Beispiel etwas, das man nie erwarten würde.«
    »Was?«, sagte ich und machte ein paar Schritte auf die Tür zu. Der Geruch machte mich schwindlig.
    »Sie reißen sich die Kleidung vom Leib«, sagte Dr. Ekhorn, »trotz der eisigen Kälte. Das ist eine Form von Delirium. Man nennt es Kälte-Idiotie. Das war bei Ihrem Mann der Fall. Er war sehr erschöpft, sehr abgemagert, hatte viel Alkohol getrunken. Ich schicke Ihnen den Abschlussbericht am Montag, reicht Ihnen das?«
    »Ja«, sagte ich.
    »Jetzt haben Sie Ihren Vermissten wenigstens wieder«, sagte er.
    »Ja«, sagte ich.
    »Wissen Sie was über ihn? Er hat eine Menge Narben und Verformungen am Körper.«
    »Er war ein berühmter Fußballspieler«, sagte ich. »Er spielte beim FC Bayern und einmal in der Nationalmannschaft.«
    »Fürs Sporttreiben hat mir immer der Ehrgeiz gefehlt«, sagte Dr. Ekhorn.
    Ich sagte: »Ihm eigentlich auch.«

14
    D anach lagen wir nebeneinander, beide auf dem Rücken, die Arme ausgestreckt und unsere Hände berührten sich sacht. Nachdem ich in der Pension »Stefanie« angerufen hatte, streifte ich, weil ich nicht in der Halle des Gerichtsmedizinischen Instituts auf Edward Loos warten wollte, die Thalkirchener Straße entlang, auf der einen Seite hinauf in Richtung Kapuzinerstraße, auf der anderen hinunter auf das Sendlinger Tor zu. Ich versuchte mir vorzustellen, auf welche unauffällige und sorgfältige Weise Aladin die Autoschlösser geknackt hatte, sodass er weder dabei noch später, während er schlief, erwischt worden war. Immer entkam er, bevor die Besitzer auftauchten, und ich war mir sicher, einige von ihnen wunderten sich vielleicht etwas über den fremden Geruch im Wagen, aber noch mehr darüber, warum sie vergessen hatten abzusperren. Ich sah Aladin, wie er sich am Neujahrstag an einer der sechzehn Busstationen anstellte, zusammen mit anderen Hungerleidern, und dankbar heißen Tee und Suppe entgegennahm. Und ich wusste nicht, wo er sich zwischen seiner letzten Begegnung mit Holder und seinem Tod im Volvo aufgehalten hatte. Wieso hatte er plötzlich den Kontakt zu seinen wenigen Verbündeten abgebrochen, wieso hatte er so überzeugend vom Konzert seines Bruders
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