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Süden und der Luftgitarrist

Süden und der Luftgitarrist

Titel: Süden und der Luftgitarrist
Autoren: Friedrich Ani
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wir um. Kein Wagen war aufgebrochen worden, in keinem schlief ein Obdachloser.
    »Ich fahre dich nach Hause«, sagte ich. Von der Hiltenspergerstraße, in der ich unseren Wagen abgestellt hatte, bis in die Albrechtstraße, wo Martin wohnte , brauchte ich um diese Zeit höchstens fünf Minuten. Martin rauchte, blickte über die Straße zur Backsteinfassade von St. Sebastian, vergrub die Hände in den Hosentaschen und behielt die Zigarette im Mundwinkel. Damals, nach dem Abitur, das wir beide knapp geschafft hatten, beschlich uns eine elementare Ratlosigkeit, was die Zukunft betraf, und das Einzige, was wir sicher wussten, war, dass wir nicht zur Bundeswehr wollten. Martin hatte zudem kein Interesse am Zivildienst, obwohl wir beide bereits mit siebzehn Jahren den Wehrdienst verweigert und uns bereit erklärt hatten, ersatzweise eine soziale Tätigkeit zu übernehmen. Auf den Formularen, die wir bei der Musterung ausfüllen mussten, stand in roten Großbuchstaben »KDV«, für Kriegsdienstverweigerer, als rüste sich die Bundeswehr, die sich nicht einmal Armee nannte, für einen Krieg. Es war Martins Idee gewesen, sich bei der Polizei zu bewerben, und da ich nicht viel mehr an Perspektiven vorzuweisen hatte als er, füllte ich die Unterlagen aus. Und inzwischen standen wir kurz vor unserem fünfundzwanzigjährigen Dienstjubiläum als Beamte. Unser Zuhause war der Staat, er bezahlte unsere Ratlosigkeit, die uns auch nach einem Vierteljahrhundert regelmäßig heimsuchte, wenn es um eine Alltagszukunft ging, vor der wir zurückschreckten, um die Bewältigung des nächsten Morgens in Abwesenheit eines unauffindbaren Kindes, um das Aussprechen eines Satzes, der die Biografien einer Familie für immer verändern würde. Und vielleicht würden wir eines Tages in einem Anfall von beamtösem Selbsthass oder existenzieller Schreckhaftigkeit unsere Papiere zurückgeben und auf die Straße laufen wie entlassene Gefangene und so tun, als warte eine neue Geborgenheit auf uns. Und ein paar Monate später würden uns die Dienerinnen des heiligen Sebastian zum Frühstück einladen, und Lina Walter würde uns wiedererkennen und nichts fragen.
    »Heut Abend wird gespielt!«, sagte Martin.
    »Unbedingt«, sagte ich.
    Ich fuhr ihn nach Hause und machte mich auf den Weg ins Dezernat, wo ich in meinem Büro ein Fernschreiben von den Berliner Kollegen vorfand, das an Sonja gerichtet war. Ich rief sie sofort an. Das war keine zukunftsträchtige Idee. Nach dem Klicken in der Leitung, das bedeutete, sie hatte den Knopf an ihrem schnurlosen Telefon gedrückt, hörte ich nichts mehr.
    »Ich bin es«, sagte ich ein zweites Mal. Am anderen Ende breitete sich eine Milbertshofener Stille aus.
    »Habe ich dich geweckt?«, sagte ich.
    »Wieso rufst du jetzt an?«, sagte sie verschlafen, aber es klang nicht nett.
    »Die Berliner Kollegen haben den Mann im weißen BMW ausfindig gemacht«, sagte ich. »Er lag mit Vanessa Wegener in einem Bett des ›Savoy-Hotels‹.«
    Keine Reaktion. Ich schaltete den Computer an, gab mein Codewort ein, klickte aufs INPOL-System und ging von dort in die VERMI/UTOT-Datei.
    »Das Mädchen ist auf dem Weg nach München«, sagte ich.
    »Ruf mich nie wieder so früh an!«, sagte sie. Ich hatte nicht daran gedacht, dass sie nie vor elf Uhr aufstand, wenn sie nicht zur Arbeit musste. Jetzt war es kurz nach neun.
    Automatisch legte ich den Hörer auf den Schreibtisch und las die Meldung auf dem Bildschirm zu Ende. Dann hörte ich Sonjas Stimme und hielt den Hörer wieder ans Ohr.
    »Was ist?«, sagte sie verärgert. »Habt ihr eine Spur gefunden? Bist du im Dezernat?«
    »Ja«, sagte ich und heftete meinen Blick unvermindert auf den Computer, als würde ich den Inhalt der Nachricht nicht begreifen. »Ja. Wir haben ihn gefunden. Entschuldige, dass ich dich aufgeweckt habe. Ich rufe dich nochmal an.«
    »Was ist denn?«
    »Schlaf noch«, sagte ich.
    Dann drückte ich auf die Gabel und wählte eine neue Nummer. »Tabor Süden«, sagte ich in den Hörer.
    »Lange nichts von Ihnen gehört«, sagte Dr. Silvester Ekhorn. »Sie haben es ja auch mit den Lebendigen zu tun. Sie sollten mich mal besuchen, bei mir stapeln sich die Leichen gerade wieder. Vor einem Jahr hab ich einen neuen Mitarbeiter angefordert, aber: Ich krieg ihn nicht.«
    »Ich wollte Sie fragen, ob ich gleich ins Institut kommen kann.«
    »Ich bin hier«, sagte der Pathologe. »Eine Identifizierung?«
    »Ja«, sagte ich.
    Der Mann auf dem Bild in meiner Hand hatte keine
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