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Süden und der Luftgitarrist

Süden und der Luftgitarrist

Titel: Süden und der Luftgitarrist
Autoren: Friedrich Ani
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erzählt und gleichzeitig diesen nicht wieder angerufen? Ungefähr drei Wochen lang musste er durch die Stadt geirrt sein, abseits seiner üblichen Wege. Wovon und wo er sich ernährt hatte, blieb im Dunkeln, vermutlich hatte er Mülltonnen und Container durchwühlt, nur geschlafen hatte er wahrscheinlich auf die gleiche Art wie immer, in einem Auto. Warum war Aladin Toulouse verloren gegangen? Warum hatte ihn Edwards Idee, gemeinsam ins Ausland zu reisen, ihre Väter zu besuchen und zumindest eine Zeit lang ein aufregendes Leben zu führen, nicht mit Zuversicht erfüllt, obwohl er nach den Aussagen seines Halbbruders nie eine negative Bemerkung über den Plan gemacht hatte? Und warum war er schließlich in das Viertel der Stadt zurückgekehrt, in dem Lina Walter und ihre Helferinnen in dieser Jahreszeit jeden Samstag Morgen zu Tisch baten? Und er hatte nicht nur das Viertel aufgesucht, sondern bestimmte Straßen. Wie Dr. Ekhorn festgestellt hatte, war Aladin vor sechs bis sieben Tagen gestorben, was meinen Überlegungen nach bedeutete, nicht vor dem vergangenen Wochenende, da er, wäre er früher nach Nordschwabing gekommen, sicher die Tafel am letzten Samstag besucht hätte. Offensichtlich tauchte er also erst am Sonntag oder Montag in unmittelbarer Nähe von St. Sebastian auf und übernachtete dort. Und dies ließ nur eine Schlussfolgerung zu.
    »Er wollte überleben«, sagte ich zu Sonja.
    Nach einem langen Schweigen sagte sie: »Oder er wollte nur sein Versprechen halten.«
    »Er konnte sein Versprechen nicht halten.«
    »Warum nicht?«
    »Es gibt keine Konzertkarten«, sagte ich. »Man zahlt am Abend Eintritt, das ist alles.«
    »Er hätte dafür gesorgt, dass dieser Holder und seine…«
    »Senta.«
    »… dass die umsonst reinkommen, das ist doch ein schönes Versprechen.«
    »Ja«, sagte ich. »Aber er redete davon, Karten zu bringen.«
    »Er war halt ein Scherzbold«, sagte sie.
    »Er wollte überleben«, sagte ich wieder. Unten im Hof bellte ein Hund, dann war es still. Von einem bestimmten Zeitpunkt einer Vermissung an verhallten alle Fragen. Sei es in der unheimlichen Gegenwart eines Schattenmenschen – so nannten wir Vermisste, von deren Tod wir ausgingen, deren Leichen wir aber nicht finden konnten, sodass die Angehörigen oft gegen ihren Willen weiterhofften und an jedem Geburtstag des Verschwundenen geradezu manisch von dessen Rückkehr überzeugt waren –, sei es angesichts eines Leichnams auf dem schwarzen Marmortisch: Eine Erklärung für den großen Sinn blieben wir ebenso schuldig wie die Antwort auf eine banale Frage wie: Wieso hat er denn einen gelben Hut aufgehabt?
    »Wieso hat er denn einen gelben Hut aufgehabt?«, fragte Mildred Loos in der Pathologie. »Und wieso eine Sonnenbrille beim Schlafen?«
    Mutter und Sohn hatten den Toten identifiziert, anschließend standen wir in der Halle, als wagten wir nicht, wieder ans Tageslicht zu treten.
    »Kälte-Idiotie«, sagte Mildred Loos, die einen schwarzen Mantel und einen schwarzen Schal trug. Sie horchte dem Wort hinterher.
    Edward Loos hatte sich ein wenig von uns abgewandt und den Kopf gesenkt, er unterdrückte seine Tränen.
    »Ich verstehe ihn nicht«, sagte seine Mutter. »Verstehen Sie ihn?«
    »Nein«, sagte ich.
    »Sie sind wenigstens ehrlich«, sagte sie und sah zu Edward, der schniefte. »Und ihr habt also die ganze Zeit miteinander telefoniert, ohne mir was zu sagen.«
    Edward sagte nichts.
    Auf dem Weg vom Keller, wo Dr. Ekhorn arbeitete, hinauf ins Erdgeschoss hatte er ihr von den regelmäßigen Gesprächen erzählt, unvermittelt, in einem sachlichen Ton, in knappen Sätzen, nicht länger als eine Minute.
    »Er ist so dünn«, sagte Mildred Loos. »Haben Sie gesehen, wie dünn er ist, so dünn?«
    »Ja«, sagte ich.
    »Sie sind Tote gewöhnt«, sagte sie.
    »Nein«, sagte ich.
    »Wird das in der Zeitung stehen?«
    Edward hob den Kopf, seine Augen waren verschwommen.
    »Weil er doch so ein bekannter Fußballer war, früher«, sagte Mildred Loos. »Ich möchte nicht, dass was in der Zeitung steht. Können Sie das verhindern, Herr Süden?«
    »Ich kann verhindern, dass Journalisten vor der Beerdigung etwas schreiben«, sagte ich. »Aber die Zeitungen werden den Tod Ihres Sohnes bestimmt vermelden.«
    »Das möcht ich aber nicht.«
    »Von mir und meinen Kollegen erfährt niemand etwas.«
    »Versprechen Sie das?«, sagte sie.
    »Natürlich«, sagte ich.
    Dann gingen wir hinaus in den Hof. Bevor wir die Straße erreichten, blieb Mildred
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