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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht
Autoren: Hellmuth Karasek
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Erinnern
     
    W
    er sich erinnert, erfindet sich noch einmal. Er macht sein Leben zur Erzählung. Er sagt wie im Märchen »Es war einmal« und glaubt, dass es einmal wirklich so war. Aber mein Erinnern fälscht in die Vergangenheit eine Zukunft. Denn während ich erzähle, wie es war, weiß ich ja schon, wie es weiterging. Ich hätte sonst den Weg nicht genommen, den Umweg nicht gemacht, hätte ich gewusst, dass ich ausgerechnet da kurz darauf böse stürzen würde.
    Wenn ich mich erinnere, höre ich scheinbar auf, weiterzuleben. Das heißt, ich lebe meine Erinnerung. Erlebe sie wie einen Roman. Wer erzählt, lässt weg. Hat vergessen. Erfindet. Glaubt das Erfundene. Glaubt es so lange, bis es wahr wird. Meine frühesten Erinnerungen sind wie in der Ferne aufzuckende Blitze in pechschwarzer Nacht, bei denen sich für Augenblicke Bilder aus dem Dunklen formen mit Umrissen, Farben, Bewegungen.
    Da mein Leben zum größten Teil im Jahrhundert des Kinos abgelaufen ist, kennt mein Gedächtnis die Techniken des Films: den Flashback, das Voice-over des allwissenden Erzählers, die Slow-motion, den Zeitraffer, die Nahaufnahme, den Zoom, die Überblendung, den Weichzeichner. Vor allem aber auch den Ton, die Musik.
    Die Erinnerung verbindet sich mit Stimmen, mit Liedern, mit Musik. Wir alle haben uns längst daran gewöhnt, dass der Zeitgeist seinen bestimmten Ton hat, seine Schlager, seine Evergreens. Unsere Nostalgie lebt davon. Selbst wenn ich es nicht mehr wüsste, hätte ich ihn noch im Ohr, den quäkenden, eigentümlich gepressten Ton des Grammophons. Ich bin ein kleines Kind, vielleicht drei oder vier Jahre und ich höre den Schlager »Regentropfen, die an mein Fenster klopfen …«. Heute weiß die Erinnerung, dass das Lied ein Tango ist. Sie setzt mich an ein Fenster, an dem ich Regentropfen herabrinnen sehe. Zum ersten Mal?
    Und während das Lied in meinem Kopf noch einmal abläuft – »Sonnenstrahlen, die an mein Fenster fallen …«, sehe ich meine Mutter, klein, jung, schön, mit dunklen Kirschaugen, eine lebenslustige Frau, ihr dunkles kurzes Haar zum »Bubikopf« onduliert. Oder reden mir das die Filme von damals heute nur ein?
    Heute weiß ich, dass sie ihre Lebenskraft noch brauchen würde, weil ich heute weiß, was wir damals alles noch vor uns hatten. Damals in Brünn, in der Tschechoslowakei. Damals wusste ich noch nicht, dass meine Mutter als Vierjährige den Ausbruch des Ersten Weltkrieges erlebt hatte, ich hätte es auch noch nicht verstanden. Und natürlich wusste ich nicht, dass ich als Vierjähriger vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges stand, dessen Ende auf der Seite der Verlierer ich als »Zusammenbruch« empfinden sollte.
    Welche Augenblicke habe ich erlebt, wie ich sie erinnere? Welche sind mir erzählt worden, bis ich glaubte, sie erlebt zu haben? Welche Erlebnisse habe ich so oft erzählt, dass das Erzählte das Erlebte überlagert?
    In dem Jahr, als die Regentropfen an mein Fenster klopften, also muss es 1937 gewesen sein, feierten wir Weihnachten in einer hochmodernen winzigen Wohnung in Brünn in den Schwarzen Feldern. Meine Eltern hatten sich endlich einen Teppich geleistet, einen Perserteppich, auf dem der Weihnachtsbaum stand. Mein Onkel Kurt, der jüngste Bruder meines Vaters, war zu Besuch und hielt eine Wunderkerze in der Hand, die ihre Sterne verspritzte. Da wurde ihm der Draht zu heiß, er ließ sie fallen, sie brannte schwarz ihre Umrisse in den nagelneuen teuren Teppich. Habe ich das wirklich gesehen? Oder hat sich die Erzählung meiner Mutter nachträglich bebildert? Wenn ich die Augen schließe oder sie beim Erinnern ins Leere richte, könnte ich schwören, dass ich den schwarzen länglichen Brandfleck im Teppich sehe …
    Meine Erinnerung ist die Wiederbeatmung einer toten, abgelebten Zeit. Ich weiß nicht, wie sich meine Urgroßeltern erinnert haben. Ich denke zurück und kann in meiner Erinnerung ein Radio anstellen. Ich höre den Tenor Jan Kiepura, ich höre Benjamino Gigli. Ich lasse Filme durch meinen Kopf laufen, ich kann versuchen, sie anzuhalten, sie frieren ein zu Standfotos, zu Momentaufnahmen. Manchmal weigert sich der Film, stehen zu bleiben. Ich bleibe zurück mit dem altmodischen Rattern der Filmperforation. Im Dunkeln.

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    ›Fort geht nun die Mutter und
    Wupp! den Daumen in den Mund‹
     
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    Dr. Heinrich Hoffmann

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    eihnachten 1944 waren die
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