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Süden und das grüne Haar des Todes

Süden und das grüne Haar des Todes

Titel: Süden und das grüne Haar des Todes
Autoren: Friedrich Ani
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sie hat mich nicht erkannt, weil sie mich nie gekannt hat. Kannst du mir erklären, wieso ich als Kind – und dabei bin ich, wie du weißt, zwei Jahre älter als sie – von ihr nur gegängelt und bevormundet und von oben herab behandelt worden bin? Und weißt du, wie sie mich immer genannt hat? Das war so gemein von ihr, und eigentlich hätte ich sie deswegen noch einmal wiedersehen müssen. Um ihr ins Gesicht zu sagen, wie weh sie mir damit getan hat. Vielleicht hat sie gedacht, ich weiß nicht, was das Wort bedeutet, und wollte mich bloß ärgern, wie immer. Aber ich habe in unserem alten Brockhaus nachgeschaut, und dann habe ich gewusst, was sie damit meint, und dass sie was ganz Böses und Hinterhältiges zu mir sagen will, absichtlich. Wenn ich mich anstrenge, kann ich ihre Stimme noch heute hören, sechzig Jahre später …
     
    »Du Drohne!«, rief sie. »Du bist so feige! So feige und so gemein!«
    Am Himmel brannte die Sonne. Ein leichter blütenduftender Wind wehte über das gewaltige Areal des Friedhofs .
    Der Gesang der Vögel mischte sich mit dem Rauschen des Verkehrs von der nahen Autobahn. Unter dem schweren Grün Hunderter von Buchen, Tannen und Eichen reihten sich achtundfünfzigtausend Gräber aneinander, viele waren alt und verwildert, und auf manchen Steinen konnte man die Namen nicht mehr lesen. In diesem Wald, der fast eine Viertelmillion Tote beherbergte, konnte man sich verlaufen wie Hänsel und Gretel, und kein weißer Vogel besang den Weg zu einem Haus aus Lebkuchen. Nur Krähen hockten versteckt auf den Zweigen, wie krächzende Schatten, und wenn sie flogen, hörte es sich an, als schabten ihre Flügel an der Luft.
    An diesem Samstagmittag, am vierzehnten Mai, wurde es jedoch plötzlich vollkommen still in den Bäumen. Und kein Schritt knirschte auf den Kieswegen, kein Rad eines Schubkarrens. Sogar der Verkehr auf der anderen Seite der Mauer schien für Augenblicke auszusetzen.
    In ihrem blauen Kleid, mit dem dünnen schwarzen Schleier über dem Dutt, kniete Emmi Bregenz in der Wiese und riss mit beiden Händen das Gras aus der Erde. Und schrie mit vor Wut lodernder Stimme: »Warum hast du mir das angetan? Sogar im Tod versteckst du dich noch!«
    Auf Händen und Knien kroch sie über die Wiese, auf der verstreut Rosen, Nelken und Lilien lagen. Sie schleuderte Grashalme in die Luft, rupfte neue aus, krallte die Hände in den Boden, spuckte aus und hustete und trommelte mit den Fäusten. Und es war ihr egal, dass ihr Kleid über ihrem dicken Körper verrutschte, ihre Strümpfe zerrissen, Erdklumpen an ihren Beinen kleben blieben und sie immer wieder zur Seite kippte, weil sie das Gleichgewicht verlor.
    Als würde sie jemandem, der dort lag, direkt vor ihr, die Haare ausreißen, in Büscheln und mitsamt den Wurzeln, maßlos vor Zorn .
    Auf ihren eindringlichen Wunsch hin hatte ich sie zu der Stelle gebracht, wo am Vortag frühmorgens die Urnen anonym vergraben worden waren. Schweigend war sie neben mir her gegangen, bis wir an eine Weggabelung kamen, an der sie stehen blieb. »In diese Richtung«, hatte sie gesagt und zwischen den Büschen hindurchgeblickt , »gehts zum Grab meiner Mutter. Für Max und mich ist da auch noch Platz.« Daraufhin war sie wortlos weitergegangen.
    »Ich hab immer gewusst, was du für eine bist!«, schrie sie das grüne Gras an und einen Strauß Vergissmeinnicht, den vielleicht ein Angehöriger in einer vagen Hoffnung dort hingelegt hatte. »Die Mama ist gestorben, und du warst in der Nähe und hast dich nicht gerührt!« Wie ein von Trotz und Verzweiflung geschütteltes Kind schlug sie mit den Fäusten auf den Boden, kratzte mit den Fingern durch die lockere Erde und zerrupfte und zerriss alles, was sie zu fassen bekam, Halme und Blumen, abgebrochene Zweige und weggeworfene Papiertaschentücher.
    … Von Mutters Tod habe ich aus der Zeitung erfahren .
    Tagelang bin ich zu Hause geblieben. Um mich leer zu weinen. Ich wollte vermeiden, dass die Leute ein anderes Gesicht von mir sehen. Offiziell hatte ich keine Eltern mehr. Anders hätte ich nicht überleben können, das war der Preis, Gabriel, mein Engel, und du hast gesagt, er ist es wert. Damals habe ich bei den Nickels gearbeitet, die immer krank waren, meine erste Stelle als Haushälterin, da war ich zwanzig oder einundzwanzig. Ich war so dürr damals, klapperig, so dünn wie Verona, die manchmal für mich einkaufen geht. Von mir erhält sie ihr erstes eigenes Geld, so wie ich damals von ihren Großeltern mein
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