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Süden und das grüne Haar des Todes

Süden und das grüne Haar des Todes

Titel: Süden und das grüne Haar des Todes
Autoren: Friedrich Ani
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viele werden denn da auf einmal begraben?«, sagte Emmi Bregenz. Sie trug ein schwarzes Kleid, das unförmig an ihr herunterhing, und hatte ihre Haare zu einem Dutt zusammengesteckt, der von einem schwarzen Nylonschleier bedeckt wurde.
    Im Wohnzimmer in der Adelgundenstraße drängten sich sechs Personen, neben Emmi und mir ihr Mann Max, ihre Tochter Lore, ihre Enkelin Tanja und ihr Schwiegersohn Jonas Vogelsang, dem ich zum ersten Mal begegnete. Gewöhnlich irritierte mich das Auftauchen einer mir unbekannten Person kurz vor Abschluss eines Falles ein wenig, doch auf Vogelsang musste ich mich nicht weiter einstellen. Er sprach nahezu nichts und hielt sich hinter den Rücken der anderen auf, die auf ihn wie auf einen ungebetenen Gast reagierten. Wenn seine Frau etwas zu ihm sagte, wandte sie ihm nur halb den Kopf zu und vermied jeden Blickkontakt. Die beiden Männer der Familie beachteten sich überhaupt nicht. Emmi konzentrierte sich auf mich.
    Und Tanja hatte die Arme vor der Brust verschränkt und heftete ihren Blick unaufhörlich auf die Wand. Ich wunderte mich, dass sie überhaupt da war, als Einzige trug sie helle Kleidung, Bluejeans und dazu ein weißes Sweatshirt mit einem großen roten Auge auf dem Rücken .
    Als ich ankam, waren sie bereits alle versammelt gewesen, Max Bregenz saß am Tisch, die anderen standen und sahen aus, als warteten sie darauf, endlich wieder gehen zu können.
    »Eine Beisetzung«, sagte ich, »besteht aus ungefähr dreihundert Urnen, es können auch weniger sein.«
    »Dreihundert?« Emmi Bregenz zupfte an ihrem Kleid, das raschelte, und als sie das Geräusch bemerkte, hörte sie damit auf. »Und das ist dann einmal im Jahr? Dann hätt es ja sein können, dass die Ruth erst nächstes Jahr wieder … dass sie beerdigt wird.«
    »Nein«, sagte ich. »Diese Beisetzungen finden zwei- bis dreimal im Jahr statt«
    »Aber das wären ja dann neunhundert im Ganzen!«
    »Ja«, sagte ich.
    »Und wie muss ich mir das vorstellen?«, sagte Lore Vogelsang, die neben ihrer Mutter stand, in einem dunkelblauen Designerkostüm, das auch als Garderobe für den Besuch eines klassischen Konzerts geeignet gewesen wäre. Im Gegensatz zu ihr hatte sich ihr Mann, der Kurator, für ein schlichtes Cordsakko mit hellen Fusseln am Rücken und ein ausgewaschenes Hemd entschieden, beides in Dunkelblau .
    »Die Männer fahren morgens um sechs auf den Waldfriedhof und heben ein passendes Grab aus, legen die Urnen in die Grube, füllen Sand hinein, decken den Rasen wieder drauf, und die Zeremonie ist beendet.«
    »Wie kalt Sie das sagen!« Lore Vogelsang warf ihrer Mutter einen um Zustimmung für ihre Empörung bittenden Blick zu.
    »So ist der Lauf des Lebens«, sagte Emmi Bregenz mit harter Stimme. In ihr ging eine Veränderung vor sich, die ihrem Mann den Schweiß ins Gesicht trieb. Vielleicht war es ihm in dem engen, überheizten Zimmer auch nur zu warm. »Das bedeutet, sie wird eingeäschert, und danach verliert sich ihre Spur.«
    »Wie redest du denn?«, sagte ihre Tochter .
    »Nicht ganz«, sagte ich. »An der Stelle im Waldfriedhof, wo die Anonymen beerdigt sind, gibt es ein Denkmal, dort können Sie Blumen niederlegen und Ihrer Angehörigen gedenken.«
    Nach einem Schweigen sagte Emmi Bregenz: »Freilich.«
    »Es war der Wunsch Ihrer Schwester«, sagte ich. »Sie wollte nicht, dass sich jemand um ihr Grab kümmern muss, einen Grabstein aussuchen und bezahlen, Blumen pflanzen, regelmäßig Friedhofsgebühren entrichten, das alles wollte sie nicht. Sie wollte im Tod so unerkannt sein wie im Leben.«
    »Schön gesagt.« Emmi Bregenz ruckte mit den Schultern .
    »Ich würd das Testament trotzdem gern lesen. Das steht mir zu, ich bin die Schwester. Was ist dieser Anwalt für einer? Steckt der mit ihr unter einer Decke?«
    »Hör auf, Mutter!«
    Bis zu jenem achten Januar hatte sie mit dem Anwalt in der Regina-Ulmann-Straße in Oberföhring nur am Telefon Kontakt gehabt.
    »Ich sei ihr von jemandem empfohlen worden«, sagte Dr. Adalbert Moser. »An den Namen konnte sie sich nicht mehr erinnern, sie meinte, das wär schon ein paar Jahre her, sie hatte sich meine Adresse notiert, für den Notfall, wie sie sich ausdrückte.«
    »Das Testament war ein Notfall«, sagte ich .
    »So hat sie es formuliert, ja.«
    Wir saßen in einem kleinen Nebenraum seiner Kanzlei und tranken Kaffee. Auf dem Plexiglastisch lagen drei Tageszeitungen und zwei Nachrichtenmagazine, vor dem Fenster mit dem weißen Lamellenvorhang stand eine
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