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Süden und das grüne Haar des Todes

Süden und das grüne Haar des Todes

Titel: Süden und das grüne Haar des Todes
Autoren: Friedrich Ani
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dass du dich womöglich fragst, ob ich arg gelitten habe. Mir erging es wie hunderttausend anderen, ich habe diese kleinen, nebensächlichen Ereignisse nur erwähnt, weil ich dir zeigen wollte, wie ich über die Runden kam, nachdem wir beschlossen hatten, uns nicht wiederzusehen. In den vergangenen zehn Jahren, das gestehe ich dir, fiel es mir auf einmal schwer, mir vorzustellen, ich könnte sterben, und wir wären uns nicht mehr begegnet, wenigstens für ein paar Stunden. Wozu? Frag mich bitte nicht! Ich weiß ja nicht einmal, wozu ich dir diesen Bericht schreibe und ob ich ihn zu Ende bringen werde. Er geht nur dich etwas an, und wenn du es für richtig hältst, zeig ihn deiner Maria, sorge aber dafür, dass sie nichts Falsches denkt. Liebe Maria, solltest du diese Zeilen lesen, sei gewiss, ich habe mir niemals gewünscht, Gabriel möge dich meinetwegen verlassen, ich habe ihm eure Liebe von Anfang an aus tiefer Seele gegönnt, und auch wenn er es war, der aus dem Ismaninger Rathaus, wo seine Mutter damals auf dem Standesamt arbeitete, den Schlüssel gestohlen hat, damit wir uns nachts reinschleichen und mir eine neue Geburtsurkunde samt Unterschrift und Stempel ausstellen konnten, so wollte er mir damit nichts beweisen oder dich kränken, denn ihr kanntet euch ja schon. Ich habe ihn gefragt, ob er so etwas für mich riskieren würde, und er hat Ja gesagt. Und danach haben wir uns nicht wiedergesehen bis zum heutigen Tag. Niemanden von euch habe ich wiedergesehen, ich habe auch niemanden heimlich besucht. Nur einmal, durch einen gespenstischen Zufall, sah ich am Münchner Hauptbahnhof eine korpulente Frau …
     
    Zufrieden bestellte sie eine zweite Flasche Rotwein, ließ sie von der italienischen Wirtin entkorken, kostete einen Schluck und hob ihr Glas.
    »Auf die Kinder, dass sie nie mehr klauen müssen und misshandelt werden!«, sagte sie.
    »Auf die Kinder«, sagte ich, und wir tranken, ohne anzustoßen.
    Meinen Kollegen von der Sonderkommission war es gelungen, die beiden am Bahnhof aufgeschnappten Frauen zum Reden zu bringen. Und über sie fanden sie den Aufenthaltsort der verschwundenen rumänischen Kinder heraus. Sie waren von Schleppern aus ihrer Heimat über die grüne Grenze gebracht und unter Schlägen abgerichtet worden, Passanten und unachtsame Geschäftsleute zu bestehlen. Die vier zwischen sieben und elf Jahre alten Kinder aus ärmsten Verhältnissen hofften auf ein besseres Leben bei wohlhabenden Familien. Bei ihren Raubzügen waren sie auf ein Ehepaar gestoßen, das ihre dramatische Lage erkannte und sie vor ihren Peinigern verstecken wollte. Doch diese erwischten sie dabei und brachten die ganze Gruppe in ihre Gewalt. Da sie nicht riskieren wollten, das Land zu verlassen, warteten sie in ihrem Unterschlupf ab. Und dort spürten Sonja und meine Kollegen sie auf.
    Ich hatte ihr gratuliert. Sonst sprachen wir wenig .
    Als sie den Rest aus der zweiten Flasche des sizilianischen Weines einschenkte, sagte sie: »Ich bin dir nicht böse. Lass uns schauen, was weiter passiert. Jeder macht seine Sache.«
    »Ich weiß nicht«, sagte ich.
    »Kümmere dich um Martin«, sagte sie. »Kümmere dich nicht um mich.«
    »Warum nicht?«
    »Möge es nützen!«, sagte Sonja .
    Wir stießen an, und ich schwieg.
     
    … Ich war auf dem Weg nach Westerland und wie immer zu früh dran. Ich folgte der Frau durch die Halle, mein Koffer war ja nie schwer, und plötzlich drehte sie sich um, und ich sah ihr Gesicht. Das war Emmi …

15
    U nd für eine Sekunde, die mir so lang vorkam wie die, als einen Tag vor Silvester das Haus zu wackeln anfing, in dem die Familie Hufschmied wohnte, habe ich gedacht, jetzt erkennt sie mich, und ich bin verloren. Denn das hatte ich mir vorgenommen: Sollte ich durch einen Zufall meiner Schwester oder meiner Mutter begegnen, würde ich nett sein und versprechen, ihnen am nächsten Tag alles zu erklären. Und dann würde ich mich in den Zug setzen, an die Nordsee fahren und so weit ins Meer hinausgehen, bis ich den Boden unter den Füßen verliere und hoffentlich nie gefunden werde. – Aber sie schaute nur auf die Uhr an der großen schwarzen Tafel, wo die Zugverbindungen stehen, drehte sich wieder um und ging weiter. An einer der Imbisstheken kaufte ich mir erst mal einen Schnaps, so erschrocken war ich, so verwirrt auch. Wie war das möglich, dass ich sie sofort erkannte, sie mich aber nicht? Es kann sein, dass ich mich täuschte, aber sehr wahrscheinlich ist das nicht. Heute glaube ich,
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