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Süden und das Geheimnis der Königin

Süden und das Geheimnis der Königin

Titel: Süden und das Geheimnis der Königin
Autoren: Friedrich Ani
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und von Landschaften, hunderte von Bildern, und ich erkannte auf vielen Karten die Türme der Münchner Frauenkirche, den Alten Peter, Schloss Nymphenburg, Maßkrüge in der Sonne.
    »Die sind alle vom Franzl«, sagte Soraya.
    »Ja«, sagte ich.
    »Er hat Ihnen geschrieben.«
    »Nicht mir«, sagte sie.
    »Dem Severin, seinem Cousin.« In ihrer Einsamkeit hatte sie sich einen leichten bayerischen Akzent bewahrt, der ihrer Stimme einen zusätzlichen Klang verlieh, als würde er sie stützen, als helfe er Soraya, überhaupt ein Wort herauszubringen.
    »Warum sagen Sie nichts?«, fragte sie nach einer Weile. Ich sagte: »Wie geht es Ihnen?«
    »Ich lebe«, sagte sie.
    »Sie leben, und ich habe gedacht, Sie wären gestorben. Wenn jemand so lange verschwunden ist, ohne ein Lebenszeichen, dann ist es sehr unwahrscheinlich, dass er noch am Leben ist. Das ist meine Erfahrung als Polizist.«
    »Jetzt hab ich Ihre Erfahrung durchkreuzt«, sagte sie.
    »Ja«, sagte ich. Und weil ich nicht wollte, dass mein Schweigen sie bedrückte, tat ich etwas, das mir immer schwer fiel, obwohl es ein wesentlicher Bestandteil meiner Arbeit war: Ich stellte Fragen.
    »Hat Ihnen Franz Grosso von Ihren Eltern geschrieben, von Ihrer Mutter, die gestorben ist?«
    »Er hat sogar die Todesanzeige mitgeschickt«, sagte Soraya. Das Licht, das durch die Balkontür fiel, verstärkte das silbrige Grau in ihren Haaren, die sie zusammengebunden hatte. Sie hatte hohe Wangenknochen, aber ihre Wangen waren eingefallen, und auf ihrer Haut sah ich dunkle Punkte. Soraya war nicht mehr schön, und ich schaute sie an, und sie erwiderte meinen Blick.
    »Warum haben Sie sich bei Ihren Eltern nie gemeldet?«
    »Ich bin weggegangen, ich wollt alles auslöschen.«
    »Was wollten Sie auslöschen? Die Liebe zu Ihrem Vater?« Sie zuckte zusammen wie jemand, der im Dunkeln erschrickt. Die kleine Bibel rutschte ihr von den Knien, und sie ballte die Fäuste.
    »Entschuldigen Sie!«, sagte ich und hob das Buch auf. Und weil sie keine Hand ausstreckte, legte ich es ihr auf die Knie. Hastig griff sie danach und zog es an sich.
    »Ich habe mit ihm gesprochen«, sagte ich.
    »Ich weiß, was Sie ihm bedeutet haben, Soraya, und was Sie ihm bis heute bedeuten. Und ich weiß, dass es Ihnen nicht anders erging.«
    »Das weiß niemand«, sagte sie.
    »Niemand kann das wissen, und darüber bin ich froh. Froh bin ich. Ja, froh. Froh.« Ihre Stimme wurde leiser.
    »Ich war ein verderbter Mensch, ich war verderbt und sündig. Ich hab Unrecht getan, viele Jahre lang, zwanzig Jahre und noch mehr, Unrecht. Aber wenn ich sterb, werd ich gebüßt haben, und ich weiß, Gott wird mir vergeben. Wie meinem Vater. Und wie er meiner Mutter vergeben hat, die gestorben ist.«
    »Sie sind ein gläubiger Mensch«, sagte ich.
    »Was wir getan haben, das darf man nicht tun«, sagte sie und neigte sich ein Stück nach vorn, eine Ahnung von Nähe entstand zwischen uns. Auch ich beugte mich vor.
    »Das darf man nicht tun«, wiederholte sie. Dann verstummte sie und zog ihren Körper wieder zurück, in die alte Starre.
    Von draußen drang das Knattern eines Traktors zu uns, immer wieder bellten Hunde, aber ich bildete mir ein, das mörderische Trio aus der Nachbarschaft wäre nicht dabei.
    »Haben Sie sich gefürchtet letzte Nacht?«, fragte ich nach einem Schweigen.
    »Ja. Die Hunde haben die Hühner getötet, Severin hat’s mir erzählt. Es heißt, man kann sich das nicht erklären, dabei ist es ganz einfach. Die Hunde haben an unser statt gehandelt, wir sollen erkennen, was geschieht, wenn wir den niederen Instinkten nachgeben, wir brauchen solche Zeichen, weil wir so schnell vergessen. Erst hab ich mich erschrocken, aber dann war ich erleichtert, wir sollten alle erleichtert sein nach dieser blutigen Nacht.«
    »Dem Hahn wird das schwer zu vermitteln sein«, sagte ich.
    Soraya hob den Kopf. Ihr Mund öffnete sich. Ihre Hände lockerten die Umklammerung der Bibel. Und dann lachte sie. Sie lachte laut und schrill, und das Heiterkeitsbeben schüttelte ihren ganzen Körper. Es war, als wäre dieses Lachen in ihr eingekerkert gewesen und würde nun mit aller Macht ins Freie stürzen. Ihre Stimme erfüllte das ganze Haus.
    In der Tür tauchte Severino Aroppa auf, außer Atem. Vermutlich war er vor Erstaunen die Treppe heraufgerannt. Er sah Soraya an wie ein Weltwunder. Ich gab ihm ein Zeichen, sich zu gedulden. Mit einem fassungslosen Gesichtsausdruck zog er sich zurück, nicht ohne noch einmal den Kopf zu recken
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