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Störgröße M

Störgröße M

Titel: Störgröße M
Autoren: Bernd Ulbrich
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ausgehalten und nicht gefragt. Es klingt paradox, nicht wahr? Aber ich hatte ja eine Hoffnung. Ich hatte dich.«
»Und nun?« fragte sie mit aller Zuversichtlichkeit, deren sie
fähig war, denn er durfte ihre Beklemmung nicht merken. »Was ist jetzt anders?«
    Scheinbar amüsiert blinzelte er ins Licht ihres Scheinwerfers. »Jetzt bin ich selber meine Hoffnung. Mir selbst kann ich nichts vormachen. Ich kenne mich zu genau.«
    »Soll ich dir das glauben?« fragte sie. »Ein Mensch mit einem solchen Willen! Du hast mich gelehrt zu überleben. Du hast mir deinen Willen aufgezwungen. Unser Wille war unser großer Trumpf, auch wenn du es jetzt nicht wahrhaben willst. Nichts anderem hast du derart vertraut. Dein Wille ist unerschöpflich. Er ist grenzenlos.«
    Geblendet schloß er die Augen. »Grundlage dieses Tricks, den du soeben bemühst, den ich selbst mit Erfolg bei dir anwandte, ist die Unkenntnis des anderen. Jeder Zirkusmagier weiß das. Wie soll ich noch darauf hereinfallen? Illusionen hat nur der Naive. Das ist überall so. Revolutionen leben davon und große Künstler und schließlich wir.«
    »Komm zu mir«, sagte sie. »Lege den Kopf gegen mein Knie. Ich will deine Hand halten. Vielleicht erfahre ich ein wenig aus deinem Gesicht.«
    Nun erst, in ihrer Nähe, so spät, fast zu spät, umhüllte ihn wie ein wohltuendes Medium die Überzeugung, eine einmalige Leistung vollbracht zu haben. Gefangen in einer Höhle Hunderte von Metern unter der Oberfläche des Saturnmondes Titan, umgeben von einer dünnen Atmosphäre giftiger Gase, von Leere und Felsen und wieder Leere, vom Leben abgeschnitten durch Millionen von Kilometern Leere, losgelöst von der irdischen Zeit, empfand er sich als frei. Allein hätte er dieses Gefühl zum Traum zerrinnen lassen. Zu zweit wurde es Bewußtsein. Unmöglich, zurückzukehren in den künstlichen Schlaf, unmöglich aufzugeben. Sie hatten den Tod getäuscht. Sie hatten etwas, was stärker war als sie selbst, überwunden.
    Ein Leben voller Pflicht war vergangen, ehe er Gelegenheit gefunden hatte, seine Kraft zu erproben.
»Ist unser Schicksal einmalig?«
»Und wenn«, antwortete sie. »Niemand wird davon erfahren.«
»Es ist unsere Einmaligkeit.«
Sie schüttelte den Kopf. »Das ist zuwenig. Wem nützt eine Einmaligkeit, die nicht millionenfach ist?«
»Uns.«
Sie nahm seine Hand. »Natürlich uns. Für einen Moment. Wir dürfen in Momenten rechnen. Jetzt ist alles erlaubt.«
»Ist das Freiheit?«
»Hier«, sagte sie, »kann man es so nennen.«
Stunde um Stunde räumten sie Schutt und Felsbrocken hinter sich, Stunde um Stunde rutschte in regelmäßigen Abständen die Halde nach. Ein Ende war nicht abzusehen.
Mit der Zeit kehrte seine gewohnte Kraft zurück. Im Wechsel von Anspannung und Erschlaffung lockerten sich die verhärteten Muskeln und regierten kraftvoller und sicherer Arme und Körper. Glaubhafter denn je erschien ihm der Gedanke, sie konnten es schaffen. Er löschte im Coder den Befehl, ihn auf steigenden Energieverbrauch aufmerksam zu machen. Zehn Stunden oder fünfzig, er wollte sie nutzen. Wie ein Traum umgaukelte ihn die Sehnsucht nach Laurettas Nähe. Konnte er ihr näher sein als jetzt? Aber war er nicht lediglich ihrem taumelnden Schatten nahe? Die Fiktion von ihrer gemeinsamen Zukunft nahm ihm den Atem. Was für eine Zukunft? Was von ihren früheren »Tele-Visionen« würden sie verwirklichen können? Damals hatte über Hunderte Millionen von Kilometern hinweg ihre Begierde nach sinnlicher Erfüllung den einen Kanal gefunden, ihre Wunschträume zu beflügeln. Sie empfanden sich als etwas Besonderes, als auserwählt, diese Liebe zu bewahren. Scheinbar untröstlich ließ sie – da nur astrale Bagatelldistanzen sie noch trennten – jede verpaßte Gelegenheit zurück, einander in die Arme zu schließen. Den Kummer linderte ein Triumph: Je mehr Zeit verstrich, desto außergewöhnlicher, ja, einmalig, wurde ihre Beziehung tatsächlich. Nach fünf Jahren kam ihnen ihre Verzweiflung schier unerträglich vor. Aber der Stolz auf ihre märtyrergleiche Hoffnungslosigkeit verlieh ihnen das Bewußtsein von Größe.
Als sie sich in einem zufälligen Augenblick ihres Lebens in einem, Stollen einer Titanhöhle gegenüberstanden, wollten sie es beinahe nicht wahrhaben, daß die heroische Zeit der unerfüllten Liebe nun vorbei sein sollte.
An sein Ohr drang ein unterdrückter Schrei. Er blickte auf und sah Lauretta reglos wie erstarrt. Die Halde lag unverändert. Ihr Winkel war nicht
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