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Störgröße M

Störgröße M

Titel: Störgröße M
Autoren: Bernd Ulbrich
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geräumten Platz umgaben. Erst als die
Spinne mit einem knirschenden Laut in der Mitte hielt,
erwiderte er: »Wieso sagst gerade du mir so etwas? Bist du
nicht genauso ein armes, kleines, angeschissenes Luder wie
ich? Ja, es geht uns gut. Es geht uns blendend! Aber wenn das
Komitee sagt, Saul arbeitet ab morgen auf Merkur, dann
arbeitet er. Und ich sage dir, das ist der letzte Ort, der
allerletzte. Ich sage dir, er ist heiß und dreckig, er ist tödlich.
Ich versprech’ dir’s, da ginge ich nicht hin. Dahin nicht. – Wir
sind da.«
Sie klappten die Helme zu. Ihre Blicke begegneten sich.
Schleppend sagte Saul: »Vielleicht ist es wirklich was wert,
über die Leute Bescheid zu wissen, die vor einem da waren,
Großvater, Urgroßonkel, wie es ihnen ging und so weiter. Aber
konkret wüßte ich nicht, was es einem einbringt. Kommst du
dir besser vor, weil du ihre Namen und Geschichten kennst, so
wie Leute, die was mehr wissen, sich meistens als was
Besseres vorkommen? Diese Informierten«, sagte er abfällig,
»diese Gebildeten. Was hilft es dir jetzt, in diesem
Augenblick? Du sollst eine Sonde checken und reparieren. Na
und? Fällt es dir deswegen leichter? Da ist vor dir einer
langgelaufen. Na und? Seine Fußtapfen sind zweihundert Jahre
alt. Na und?«
Mit Bedauern sagte Demperer: »Du begreifst es nicht.« Sie stiegen aus. Doch als sie einige Meter zurückgelegt
hatten, war Demperer klar, daß seine Antwort unvollständig
war. Er vermutete ein Mißverständnis. Unwillkürlich
verlangsamte sich sein Schritt. Durch Sauls Ruf fühlte er sich
gestört, und erst am Eingang der Sonde erreichte er ihn. Er
glaubte Worte gefunden zu haben, die Saul verstehen mußte. »Weißt du«, sagte er, »das ist wie mit einer Frau. Du willst
wissen, was vor dir war. Wer waren deine Vorgänger, wie
sahen sie aus, welche Eigenschaften und so weiter?« »Verstehe«, erwiderte Saul, und schon atmete Demperer auf.
»Aber ich wollte das noch nie wissen. Es ist mir schnurz, wen
sie vor mir hatte. Ich bin jetzt, verstehst du, jetzt. Nicht gestern,
nicht morgen, sondern jetzt. Punkt!«
»Ach so.« Demperer bewegte unbeholfen die Arme. »Wir
sollten mit der Arbeit anfangen. Ich denke, die warten in der
Basis auf die Werte.«
Sie trugen Werkzeuge und Instrumente hinüber, legten eine
kurze, schweigsame Pause ein und begannen mit ihrer
Tätigkeit.
Nach Stunden waren sie keinen Schritt weiter. Der
Diagnosecodon ermittelte keinen Defekt. Auf alle Fälle bauten
sie die in Frage kommenden Funktionsblöcke aus und ersetzten
sie durch neue. Im Bild der Störungen ergab sich keinerlei
Veränderung. Sie blieben untypisch und waren selbst für den
Codon nicht identifizierbar. Völlig regellos sanken Meßwerte
plötzlich ab, schnellten in astronomische Höhen oder fielen
zeitweise völlig aus, was dem Verlöschen ganzer Galaxien
gleichgekommen wäre.
»Machen wir morgen weiter«, sagte Demperer schließlich.
»Es ist spät geworden, und wir sind nicht mehr konzentriert bei
der Sache. Vielleicht bringt uns Morpheus eine Erleuchtung.« »Eh, bist du gebildet«, frotzelte Saul. »Wer hätte das
gedacht.« Sie lachten, und die Spannung der vergangenen Stunden wich ein wenig von ihnen. Im Grunde war Demperer froh, daß er mit Saul zusammenarbeitete. Er war ein Fachmann, wie man ihn selten findet. Ein siebenter Sinn schien
ihm stets zu sagen, wann der Kollege seine Hilfe brauchte. Bevor sie sich zur Ruhe legten, spielten sie eine Partie
Schach. Saul war ein guter Verlierer. Eigentlich hatte er sich
das ganze Spiel über im Vorteil befunden. Ein einziger
geradezu abwegiger Fehler brachte ihn zu Fall. Demperer
konnte sich seines Sieges nicht freuen. Es erschien ihm
kindisch, seinen Kumpel Saul mit einem Sieg beschenken zu
wollen. Er schämte sich ein wenig seiner Naivität, und
trotzdem wäre ihm die Geste wichtig erschienen. Es lag ihm
daran, Saul von sich zu überzeugen. Was immer es sein
mochte, ein Wille oder eine unbewußte Impulsivität, sie sollten
dazu dienen, seinen eigenen Glauben, sein Vertrauen zu
befördern. Gab es nicht Menschen, die weit mehr geopfert
hatten als einen Sieg im Spiel, ihre Liebe. Er hatte sie nicht
heute getroffen, nicht in seinem Leben. Aber die Gewißheit,
daß sie zu allen Zeiten dagewesen waren, versicherte ihn ihrer
heutigen Existenz. Wie sollte er Saul von dieser Sicherheit
abgeben? Waren das nicht Sauls Worte, daß das nicht alles sein
konnte, Weiber, Sonne, Fressen? Demperer schwieg. Was,
würde Saul spöttisch grinsend fragen,
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