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Zehn zärtliche Kratzbürsten

Zehn zärtliche Kratzbürsten

Titel: Zehn zärtliche Kratzbürsten
Autoren: Arto Paasilinna
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1 Annikki
     
    Der Tod schnauft uns entgegen wie eine unheimliche Dampflok, die alles auf ihrem Weg zermalmt, und keiner kann dem entkommen. Auf den Zug ins Totenreich wird jedermanns Leiche irgendwann aufgeladen, auch wenn der Fahrplan sich manchmal ändert. Vor dieser letzten Reise steht jedoch das Alter, und davor die späten mittleren Jahre. Und d ie beginnen, wenn der Mensch sechzig wird. Zu diesem Zeitpunkt sollte ein jeder, und besonders der Mann, sich bereithalten und auf die Abfahrt seines Zuges warten, sollte sich läutern und zur Ruhe kommen. Doch längst nicht alle tun dies.
    Mit dampfendem Rücken verließ Direktor Rauno Rämekorpi die Sauna im Obergeschoss seines Reihenhauses und trat auf den Balkon hinaus, um sich abzukühlen. Unbekleidet stand er da und betrachtete den grauen Finnischen Meerbusen, der vor Westend in Espoo wogte. Es war Freitagmorgen, der siebte September. Hinter Rämekorpi lagen sechzig raue, rastlose und auch merkwürdige Jahre, vor sich hatte er zehn, hoffentlich zwanzig. Was würde der Rest des Lebens mit sich bringen, was konnte er noch erwarten, was musste er unb e dingt noch tun? Vor sechzig Jahren, 1941, war Rauno im Dorf Riipinen, Gemeinde Sodankylä, zur Welt gekommen. Die Deutschen hatten Lappland besetzt. An allen Fronten hatten die Kämpfe des zweiten Weltkriegs getobt.
    Am Himmel schrien Kraniche. Die großen Vögel schwebten im Kreis, suchten nach tragenden Luftströmen, formierten sich zu einer Pflugschar. Raunos Augen wurden feucht, als er nach oben schaute, er konnte es nicht lassen, musste beobachten, wie sich die stolzen Vögel auf ihre lange Reise vorbereiteten. Als sie ihre Formation gebildet hatten und zielstrebig gen Süden flogen, senkte der Direktor den Blick und trocknete seine Tränen. Die Kraniche waren davong e flogen. Auch sein eigenes Leben näherte sich in raschem Tempo seinem Ende.
    Der Kranichzug hatte durchaus nichts Schicksalhaftes. Die Vögel flogen jedes Jahr nach Süden. Rauno fragte sich, was es letztlich war, das sie forttrieb. Er glaubte, dass sie im kalten Wind und im Frost des Nordens durchaus zurechtkommen würden, aber wie sollten sie in Lapplands Sümpfen Nahrung finden, da sich die Frösche bis unter die Frostschicht verkriechen würden. Futter war es, was die Vögel im Süden suchten, sonst gar nichts. Ein Kranich frisst keine Eichhör n chen, klettert nicht auf einen Baum. Aber wenn die Evolution dafür gesorgt hätte, dass ihm Greiffüße gewachsen wären, könnte man in Lapplands Schneestürmen eindrucksvolle Schauspiele beobachten, wenn sich die Langhälse ihren Weg in die dichten Wipfel der Fichten bahnen, Marder und Eichhörnchen verfolgen, die unglücklichen Fellknäuel schließlich packen und verschlingen würden. Nach erfolgreicher Jagd würden sie mit ihren langen Stelzen in den Baumwipfeln balancieren und zufriedene Schreie ausstoßen.
    Raunos Frau Annikki trat auf den Balkon und legte sacht ihre Hand auf den Arm ihres Mannes.
    Annikki: Erkälte dich nicht, Rauno. Komm herein, ich helfe dir in den Frack. Aber erst musst du dich rasieren und dein Haar trocknen.
    Rauno sah sie an: eine dunkelhaarige, sanfte Frau, die auf schöne Art alterslos wirkte. Er war mit ihr seit fast dreißig Jahren verheir a tet. Annikki war seine zweite Frau, seine erste Ehe hatte mit der Scheidung geendet, ihr entstammten zwei Söhne. Mit Annikki hatte er sich keine Kinder mehr angeschafft. Rauno spürte, dass er seine Frau auch nach Jahrzehnten noch liebte, obwohl ihr Zusammenleben nicht mehr so leidenschaftlich war wie in jungen Jahren. Sie unte r hielten getrennte Schlafzimmer. Annikki hatte behauptet, dass Raunos Haare nach Rauch stanken, da er, besonders wenn er trank, pausenlos grüne North States qualmte. Bei Annikki war Asthma festgestellt worden, und ein Mann, der nach Zigaretten roch, war nicht gerade der ideale Bettgefährte. Trotzdem tappte Annikki jeden Morgen gegen sechs Uhr, wenn sie in ihrem eigenen Bett erwacht war, ins Schlafzimmer ihres Gatten und legte sich zu ihm, um noch ein Weilchen neben ihm weiterzuschlafen. Das war praktizierte Nähe und wortlose Liebe eines alternden Paares, eine schöne und zärtliche Geste, aus der ein angenehmes allmorgendliches Ritual geworden war.
    Annikki brachte ihrem Mann von unten die Zeitung und das Frühstück herauf und stellte das Tablett neben seinem Bett ab. Rauno drehte sich auf die linke Seite und breitete die Zeitung auf dem Fußboden aus. in unmittelbarer Reichweite die Tasse Tee mit
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