Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Störgröße M

Störgröße M

Titel: Störgröße M
Autoren: Bernd Ulbrich
Vom Netzwerk:
ihn Demperer an, »kannst ja gleich behaupten, ich spinne.«
Saul faßte begütigend seine Schulter. »Ist doch aber komisch, solche Geschichten passieren immer in der Vergangenheit.«
»Also hat sie dir gefallen«, stellte Demperer zufrieden fest.
»Gefallen?« Saul sprach das Wort mit einem sonderbar erstaunten Tonfall aus. »Sind sie alle umgekommen?«
»Der Großvater meines Großvaters war der letzte, der rauskam. Hinter ihm brach das Stollensystem zusammen. Acht Leute kamen unter den Schuttmassen um. Unter ihnen der Zwillingsbruder meines Urururgroßvaters sowie die Frau mit dem Namen, den ich immer wieder vergesse. Verstehst du, nach so vielen Jahren der Trennung hatten sie sich eben gefunden. Verstehst du, wie, beschissen traurig das ist?«
»Bin ja nicht blöd«, sagte Saul beleidigt. »Es ist schon traurig, daß sie nichts von ihrem Leben hatten. Genau wie wir. Da krebsen wir im Weltraum ‘rum, auf irgendwelchen Monden, verdienen ‘ne Menge Kies. Und das alles nur, um irgendwelchen Spinnern bei irgendwelchen versponnenen Ideen zu helfen, mit denen sie dann berühmt werden und in die Geschichte eingehen. Wer wird sich schon an uns erinnern? Haben wir denn eine Chance, was Besonderes zu machen?«
»Na ja«, sagte Demperer. »Wir sind eben das Fußvolk.«
»Schön.« Saul rülpste. »Aber wer kennt schon Saul? Wer kennt das Stück Fußvolk Saul? Ich denk’, ich bin gerade ein Stückchen vom Arsch, vom großen, fetten Arsch des Fußvolks. Ein Stück davon ist Saul. Ein Stück mehr oder weniger, na und! Arsch bleibt Arsch. Und ab und zu tritt einer ‘rein.«
»Wer?«
Saul stutzte. Dann sagte er: »Na, irgendeiner. Irgendeiner, der nicht Arsch ist.«
»Na, na!« machte Demperer. »Du übertreibst. Ist doch jedem seine Sache. Arsch oder nicht.«
»Ich hab’ nichts gegen Fußvolk«, sagte Saul eigensinnig. »Muß ja sein. Aber ich will nicht gerade zum Dingsda gehören, zum…«
»Nun hör endlich auf«, entgegnete Demperer. »Du spinnst ja. Ich fühle mich nicht als Arsch.«
»Aber als Kopf auch nicht, was?«
»Bin ich nicht. Will ich auch nicht sein. Ich bin hier und repariere Sonden. Ist nicht schön hier, aber man kann nicht alles haben. Willst du ein Schlaraffenland? Was soll’s.«
»Mann, denk doch mal nach, wo’s jetzt überall schöner wär’ als hier! Da sollten wir sitzen, mit ein paar Miezen und was für den Gaumen und Sonne auf den Bauch. Anstatt uns hier womöglich den Schädel abblasen zu lassen. Ich frage dich, wozu? Wozu denn, für wen, für was?«
»Du hast keinen Funken Bewußtsein.« Demperer grinste fröhlich.
»Ein Arsch braucht kein Bewußtsein. Er hat zu funktionieren. Er ist dazu da, daß sein Besitzer weich sitzt. Eine Art Ruhekissen. Das ist alles.«
Demperers Grinsen vertiefte sich. Das Bild, welches Saul entwarf, amüsierte ihn. Er nahm ihn nicht sehr ernst. »Und wessen edles Teil bis du nun, he?«
»Weiß nicht«, sagte Saul. »Hab’ den Kerl noch nie gesehen.«
»Vielleicht solltest du mal in den Spiegel schauen.«
Saul beäugte ihn mißtrauisch. »Willst du mich verklapsen?«
Während der Wagen enge Kehren zog und mit verminderter Geschwindigkeit holpernd eine andere Richtung einschlug, bemerkte Demperer: »Mensch, was du da redest, ist doch kopflastig. Das hat einen Wasserkopp. Schon mal was von Fortschritt gehört? Du, ich, die Großväter, die Zwillingsbrüder, wir alle arbeiten am Fortschritt.«
»Was für ein Fortschritt?«
»Herrgott, Saul, es geht uns besser als je einem Scheißkerl vor uns.«
»Was denn?« Saul feixte. »Arbeit und genug zu fressen hatte auch schon dein Urururgroßpapa.« Als wäre er durch eine Falltür gestolpert, verfiel er in Schweigen. Sein Gesicht verdüsterte sich. Schließlich sagte er: »Manchmal denke ich, da muß noch was kommen. Das kann doch noch nicht alles sein. Essen, Arbeit, Weiber. Manchmal denke ich, die Welt besteht doch aus mehr.«
»Aber du weißt nicht aus was?«
»Nee, ‘s hat mir keiner gesagt.«
»Es wird dir auch keiner sagen. Du mußt selbst draufkommen.«
»Manchmal denke ich, man müßte mich fragen, ob ich’s hier angenehm finde und ob ich gerne hier bin. Aber statt dessen dreschen sie Phrasen von unserem Heldenmut, nach dem mich noch keiner gefragt hat. Wenn du die Toten fragen könntest, deine teuren, allzu teuren Toten, die, die heute als Denkmal aufm Sockel stehen! Was, glaubst du, würden sie dir antworten?«
Demperer setzte zu einer Geste an, die sofort in Unbestimmtheit und Fahrigkeit endete. »Wir müßten
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher