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Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Titel: Stoerfall - Nachrichten eines Tages
Autoren: Christa Wolf
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nur meine Stimme hören. – Das sei eine gute Idee von ihr gewesen. – Ob ich eigentlich wisse, daß sie mich gern habe. – Ich hätte es gehofft. Auch vermutet. – Nun wisse ich es also. – Ja. Und es mache mich froh. – Das sei so einer von diesen Tagen. »Kettenreaktion« sei ein Wort gewesen, mit dem man ihr schon als Kind einen mörderischen Schrecken eingejagt habe. – Als das Wort aufkam, sei ich kein Kind mehr gewesen. Übrigens werde heute mein Bruder operiert. – Ach. Sie habe gar nicht gewußt, daß ich einen Bruder habe. Was Ernstes? Dann wolle sie jetzt mal aus der Leitung gehen.
    Ich habe sie dann in ihrem mit Büchern und Manuskripten allmählich zuwachsenden Zimmer gesehen, schmal, zusammengezogen, ihre sparsamen Bewegungen. Die bizarren Bahnen, welche Gedankenund Wörter in ihrem Kopf beschreiben mögen, ehe sie, immer noch bizarr, doch ein jedes genau an seiner Stelle, auf dem Papier niedergehen. Ihr alter Schreibtisch. Das Berliner Fenster zum Hof hinaus. Ich habe darüber nachdenken müssen, wie Freundlichkeit mir das Verstehen eines anderen erleichtert, das mir, bei dieser Freundin, manchmal schwerfiel. Vielleicht, hatte sie noch gesagt, sollte sie sich einfach mehr Mühe geben, verständlich zu sein. Es sei doch auch eine Art Selbstschutz, nicht verstanden werden können. Da habe ich sie vor den Folgen solcher Geständnisse für die Beurteilung ganzer Literaturen gewarnt.
    Rührung ist nicht am Platze, am wenigsten heute.
    Der Schmelz ist weg vom Planeten, nicht? hat die Freundin gesagt. Der Satz hat sich vor die Blätter auf meinem Arbeitstisch geschoben, dem ich mich versuchsweise genähert habe, eingedenk jener beneideten Zunftgenossen, die – Tod, Verderben, Untergang und Bedrohung vieler Art um sich – die Linie, die sie, schreibend, irgendwann einmal angesetzt hatten, unbeirrt weiter verfolgten, wortebesessen, auf ein Ziel hin, zu dem der Abstand sich niemals verringern will. Ich habe mich auf meinen Drehstuhl gesetzt, die Blätter überblickt, einzelne Sätze gelesen und gefunden, daß sie mich kaltließen. Sie, oder ich, oder wir beide hatten uns verändert, und ich habe an gewisse Dokumente denken müssen, auf denen erst unter einer chemischen Behandlung die wahre, die geheime Schrift hervortritt, während der ursprüngliche,absichtlich belanglose Text sich als Vorwand entpuppt. Unter der Bestrahlung habe ich die Schrift auf meinen Seiten verblassen, womöglich schwinden sehen, und ob einst ein dauerhafter Untertext zwischen den Zeilen hervortreten würde, ist noch ungewiß gewesen. Ich habe eine neue Erfahrung mit einer bösen Art von Freiheit gemacht. Ich habe erlebt, daß es auch die Freiheit gibt, jeglichen Gehorsam aufzukündigen, sogar den, den ich den selbstauferlegten Pflichten schulde. Ich habe es zum erstenmal für möglich gehalten, daß auch diese Art Pflichten sich zersetzen können, und mir ist klargeworden, daß keine Gewohnheit stark genug sein würde, an ihre Stelle zu treten. Ach. Wie freudig würde ich mich weiter auf ein Ziel zubewegen, zu dem der Abstand sich nie verringern würde.
    Wie aber könnte ich gehen ohne Ziel?
    Erleichtert, falls dieses Wort hier am Platze ist, habe ich mir Urlaub gegeben. Heute kein Wort. Ich bin noch eine Weile sitzen geblieben und habe auf das Rasenstück und die Holunderhecke hinter dem Haus gestarrt, die noch bei weitem nicht die Dichte erreicht hatte, die sie drei, vier Wochen später haben würde. Dann bin ich aufgestanden, hinausgegangen und habe angefangen, unter dem Unkraut zu wüten, mit bloßen Händen. Zuerst habe ich das Gras um die kleinen neugepflanzten Sträucher gerupft, die zu ersticken drohten. Eine winzige Forsythie schickte sich an zu blühen. Absurd, habe ich gesagt und sie freigelegt. Meine Gedanken sind wieder zu jener Freundinhingegangen, und ich habe mich fragen müssen, warum ich mich manchmal gegen sie panzern muß – immer dann, wenn ich Anlaß habe zu glauben, daß sie mir ihre Sympathie entzogen hat. Der Absturz, nicht nur in die Verunsicherung, auch in Feindseligkeit, geschieht immer, oder fast immer, durch den Verlust der Sympathie. Wie kommt es aber, daß die Antipathie, die A-pathie die Kraft haben, uns dem Bild anzuverwandeln, das sie sich von uns machen. – Im Schatten ist das Gras immer noch naß von Tau gewesen. Ich habe gerupft wie ein Automat und dabei versucht, wie ein Automat sein Programm, meine Gedanken zu löschen. Dem Franzosenkraut, das von den Rändern der Wiese her auf uns
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