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Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Titel: Stoerfall - Nachrichten eines Tages
Autoren: Christa Wolf
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gewußt; hätten maßlos unter ihrer überentwickelten Gehirntätigkeit leiden müssen –
    Da wirst du mich ungerecht finden, Bruder, und ich scheue mich, ungerecht zu sein oder zu erscheinen, das weißt du; aber weißt du auch, warum? Weil ich durch Gerechtigkeit gegen jedermann die verletzenden Ungerechtigkeiten der anderen von mir ab-, an mir vorbeizulenken suche. Es soll dir also zugestanden werden – später; nicht heute; heute nicht –, daß jene Männer, die dem friedlichen Atom nachjagten, von einer Utopie geleitet wurden: genug Energie für alle und auf ewig. Hätten sie es rechtzeitig anderswissen können? Wann hatte ich es zum ersten Mal mit ihren Widersachern zu tun? Laß mich nachdenken. Es war Anfang der siebziger Jahre, das Kraftwerk hieß Wyhl, es ist nicht gebaut worden. Die jungen Leute, die uns die ersten Materialien über Gefahren bei der »friedlichen« Ausnutzung der Atomenergie in die Hand drückten, wurden verlacht, reglementiert, gemaßregelt. Auch von Wissenschaftlern, die ihre Arbeit, ich hoffe: ihre Utopie, verteidigten. »Monster«? Aber habe ich gesagt, daß sie Monster waren? Treiben die Utopien unserer Zeit notwendig Monster heraus? Waren wir Monster, als wir um einer Utopie willen – Gerechtigkeit, Gleichheit, Menschlichkeit für alle –, die wir nicht aufschieben wollten, diejenigen bekämpften, in deren Interesse diese Utopie nicht lag (nicht liegt), und, mit unseren eigenen Zweifeln, diejenigen, die zu bezweifeln wagten, daß der Zweck die Mittel heiligt? Daß die Wissenschaft, der neue Gott, uns alle Lösungen liefern werde, um die wir ihn angehen würden? Ist die Frage falsch gestellt? Habe ich, weil ich seit Tagen, Wochen diese wahrscheinlich falsch gestellte Frage ergebnislos umkreise, nur zu gerne den Vorwand benutzt, den dieser Tag mir liefert, mich von meinem in falschen Fragestellungen, zaghaften Annäherungen, unzureichenden, daher zahllosen Ansätzen steckengebliebenen Manuskript zu beurlauben? Gesucht und zugleich geflohen wird der Punkt des stärksten Schmerzes; ich sollte es wissen, Bruder, woher dieses Gefühl des Zerrissenwerdens kommt; verstehen –mein Gott ja, verstehen kann ich es schon, wenn man versucht, dem auszuweichen, bis in den Kosmos, oder eben ins Atom –
    Liste der Tätigkeiten, die jene Männer von Wissenschaft und Technik vermutlich nicht ausüben oder die sie, dazu gezwungen, als Zeitvergeudung ansehen würden: Einen Säugling trockenlegen. Kochen, einkaufen gehn, mit einem Kind auf dem Arm oder im Kinderwagen. Wäsche waschen, aufhängen, abnehmen, zusammenlegen, bügeln, ausbessern. Fußböden fegen, wischen, bohnern, staubsaugen. Staubwischen. Nähen. Stricken. Häkeln. Sticken. Geschirr abwaschen. Geschirr abwaschen. Geschirr abwaschen. Ein krankes Kind pflegen. Ihm Geschichten erfinden. Lieder singen. – Und wie viele dieser Tätigkeiten sehe ich selbst als Zeitvergeudung an?
    Ich habe gelesen: Der Mensch, unfertig und unvollkommen, könne auch als ein Wesen definiert werden, das aktiv nach seiner optimalen Entwicklung suche. Ich – jenes Ich, das sich zum Zwecke des Nachdenkens von »mir« abzuspalten pflegt –, ich habe mich sehr komisch gefunden, in der Lücke zwischen den Holunderbüschen stehend, nochmal und nochmal den Ausblick über das grüne Getreidefeld, wie es da in großen Wellen zum See hin abläuft, in mich aufnehmend, ein Bild, nach dem ich süchtig werden könnte, und mich fragend: Was will der Mensch. Ich, lieber Bruder, habe mir gedacht: Der Mensch will starke Gefühle erleben, und er will geliebtwerden. Punktum. Insgeheim weiß das jeder, und wenn es ihm nicht gegeben ist, nicht gelingt oder verwehrt wird, diese seine tiefsten Sehnsüchte zu befriedigen, dann schafft er, ach: wir! –, dann schaffen wir uns Ersatzbefriedigung und hängen uns an ein Ersatzleben, Lebensersatz, die ganze atemlos expandierende ungeheure technische Schöpfung Ersatz für Liebe. Alles, was sie Fortschritt nennen und woran auch ich hänge, Bruderherz, ob ich will oder nicht, nichts als Hilfsmittel, um starke Gefühle auszulösen (»... wenn ich meine schwere Maschine zwischen den Schenkeln habe, bin ich so unendlich viel mehr als mein mickriger Chef ...«) – kann man das sagen; sind wir die letzte Generation, die glaubt, starke Gefühle dürften nur von Menschen in uns ausgelöst werden, alles andere sei lästerlich, lasterhaft –
    aber nun hat wieder das Telefon geklingelt, und ich renne, was ich rennen kann, zur Hintertür ins Haus,
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