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Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Titel: Stoerfall - Nachrichten eines Tages
Autoren: Christa Wolf
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Verdacht, der in ihnen bohrt, macht es, daß die unschuldige Himmelsfarbe diesen giftigen Ton annimmt. Der bösartige Himmel. So setzen sich die Mütter vors Radio und bemühen sich, die neuen Wörter zu lernen. Becquerel. Erläuterungen dazu – von Wissenschaftlern, die, von keiner Ehrfurcht gehemmt, was die Natur im Innersten zusammenhält nicht nur erkennen, auch verwerten wollen. Halbwertszeit, lernen die Mütter heute. Jod 131. Caesium. Erläuterungen dazu von anderen Wissenschaftlern, die, was die ersten sagten, bestreiten; die wütend und hilflos sind. Das riesele nun alles, zusammen mit den Trägern der radioaktiven Substanzen, zum Beispiel Regen, auf uns herab –
    aber du, Bruder, dem die sichere Hand deines Chirurgen das Augenlicht erhalten möge, wirst es so wenig zu sehen kriegen wie wir. Daß wir es »Wolke« nennen, ist ja nur ein Zeichen unseres Unvermögens, mit den Fortschritten der Wissenschaft sprachlich Schritt zu halten. Unser Erkennungsapparat – dessen Sitz ich mir, wie den des Sprachzentrums, in der linken Gehirnhälfte vorstellen soll, dort, wo die späten kognitiven Funktionen des Menschen sich versammeln –, unaufhörlich neue Informationen aufnehmend und sie mit alten, schon gespeicherten vergleichend, wählt zur Benennung eines neuen Phänomens gewöhnlich diejenige Bezeichnung aus, welche die größte Anzahl an Merkmalsübereinstimmungen mit denjenigen Erscheinungsformen der Materie aufweist, die er seit alters her kennt. So würdest du mir den Vorgang erklären. So ähnlich hast du ihn mir erklärt, als du mir neulich erst das Programm vorführtest, das du auf deinem Personal Computer gespeichert hast. Ich sah, wie sein Gehorsam dich freute, als du das Programm abriefst. Siehst du? Er hat verstanden. Jetzt sucht er PH 1. READY . Siehst du das? Jetzt ist er fertig. Jetzt drücke ich also diese Taste. Jetzt liefert er die Berechnungen dafür, wie ein beliebiger Ausstoß sich von einer Quelle aus verbreitet, wenn diese Quelle sich 20 Meter über der Erdoberfläche befindet. Also, angenommen, ein Schornstein. Und die Emmission kann, zum Beispiel, schwefelhaltiger Rauch sein. So. Und damit du das Ganze auf einen Blick überschauenkannst: Zackzackzackzackzack: Die dazugehörige Grafik. Das ist der Vorteil dieses Systems, es zeichnet auch. Jetzt siehst du den Verlauf: Bis zu etwa 200 Metern ziemlich steil ansteigend, und dann, hier, der Pik: Bei der angenommenen Schornsteinhöhe von 20 Metern wäre die maximale Schadstoffkonzentration auf einer Kreislinie von ca. 200 Metern Abstand von der Ausstoßquelle zu erwarten. Und je höher der Schornstein wäre, desto weiter würde sich das Immissionsgebiet natürlich von der Quelle entfernen. Was nehmen wir denn mal. Also: 30 Meter Schornsteinhöhe. Die Taste. READY . Zackzackzackzack: Die Zahlen. Jetzt wieder die Grafiktaste. Bittesehr. Der Pik hat sich deutlich verschoben. Was zu erwarten war. – Wenn du also, lieber Bruder, deinen Computer am Krankenbett hättest, dann könntest du die Drift unserer Wolke berechnen, vorausgesetzt, du hättest Ausgangswerte, zum Beispiel über Quellstärke, Höhe des Reaktors, Windgeschwindigkeit, um deinen Computer damit zu füttern. Die aber hast du nicht –
    Wie merkwürdig, daß A-tom auf griechisch das gleiche heißt wie In-di-viduum auf lateinisch: unspaltbar. Die diese Wörter erfanden, haben weder die Kernspaltung noch die Schizophrenie gekannt. Woher nun der moderne Zwang zu Spaltungen in immer kleinere Teile, zu Ab-Spaltungen ganzer Persönlichkeitsteile von jener altertümlichen, als unteilbar gedachten Person –
    Ob das Gehirn, daseinzige Organ des Menschen, das – neben Herz und Lunge – auch während des Schlafs aktiv bleibt, in der tiefsten Narkose wirklich zur Ruhe kommt. Ob es wenigstens für Stunden aufhören kann, rastlos nach Reizquellen zu suchen und, falls seine Umgebung ihm echte Reize nicht zuleitet, aus Ersatzquellen zu schöpfen. Seine immense überschüssige Energie an Ersatzprobleme zu vergeuden: unerforschbar, daher eine falsche Fragestellung. Kein Chirurg könnte in den Gehirnen der Männer, die sich die Verfahren zur sogenannten friedlichen Nutzung der Kernenergie ausgedacht haben, zu jener Gruppe neuronaler Verbindungen vordringen, die keine Ruhe gab. Deren Dauererregung nur zu stillen war durch die Arbeit an ausgerechnet den Problemen, die das ungebändigte Atom seinen Bändigern stellte. Ohne dieses Ziel, vermute ich versuchsweise, hätten sie nichts mit sich anzufangen
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