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Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Titel: Stoerfall - Nachrichten eines Tages
Autoren: Christa Wolf
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Keinesfalls wird der Reaktorkern durchschmelzen. Oder: Aber doch. Doch, doch: Auch das ist gar nicht ausgeschlossen. Dann wäre jene Erscheinung zu erwarten gewesen, die der Humor der Wissenschaftler so anschaulich »Chinasyndrom« getauft hat. Solange der Brand nicht gelöscht gewesen ist – und Graphitbrände, Bruder, das wirst du nicht wissen, sind, so schwer sie entstehen mögen, unglaublich schwer zu löschen, haben wir erfahren müssen –, solange die Kettenreaktion weitergeht, kann der Reaktorkern, sich durch den Erdmittelpunkt durchschmelzend, aktiv bleiben, bis er, verwandelt sicherlich, aber immer noch strahlend, bei den Antipoden wieder herauskäme. Entsinnst du dich, Bruder, an das tiefe Loch, das wir auf dem Sandberg vor unserem Haus gruben und in das wir, gehörig mit Warnschildern versehen, eine Bierflasche voller Salzsäure versenkten, der wir zutrauten, daß sie sich zu den Antipoden durchfressen würde? Erinnerst du dich an den Brief, den wir, in Zellophan wasserdicht eingewickelt, am Hals der Flasche festgebunden hatten? An seinen Inhalt? Brüder und Schwestern – so redeten wir die Antipoden an und baten sie dringlich, uns an unsere Adresse, die wir natürlich angaben, den Empfang unserer Flaschenpost zu bestätigen.
    Direkt dankbar ist man ja gewesen, wenn mansich etwas bildlich hat vorstellen können. Dem Einfall, ob wir uns nicht beizeiten bei den Antipoden entschuldigen sollten, habe ich nicht nachhängen können, weil ich zuhören mußte, was ein Radiosprecher einen anscheinend jüngeren Experten gefragt hat, der freundlicherweise zu ihm ins Studio gekommen war: Was denn er heute mit seinen Kindern machen würde, gesetzt den Fall, er hätte welche. Er hat welche. Er, hat er gesagt, hat seiner Frau nahegelegt, den Kindern heute keine Frischmilch, keinen Blattspinat und keinen grünen Salat zu geben. Auch nicht in den Park oder in den Sandkasten mit ihnen spielen zu gehn, vorsichtshalber. Da habe ich, während ich die Zahnpasta auf die Zahnbürste gedrückt hab, jemanden sagen hören: So. Soweit hat es kommen müssen.
    Die da geredet hat, das bin ich gewesen. Der Test, wie lange ich allein sein kann, ohne anzufangen, mit mir selbst zu reden, hat schon am dritten Tag erste Brocken von lautem Selbstgespräch herausgetrieben, von der Art: So. Jetzt mach ich die Wäsche noch fertig, dann ist aber Schluß! Das ist heute der fünfte Tag gewesen, unter verschärften Bedingungen, da hab ich begonnen, nicht vorhandene Leute laut anzureden: Das könnte euch so passen! zum Beispiel –
    Welche Art von Sägen man benutzt, die Hirnschale aufzusägen, das weiß ich nicht. Es heißt, man folge den Nähten, die ja den Schädel in mehrere Segmente teilen. Wenn wir wollen, hat dir dein Arzt gesagt, umdich durch die Vollkommenheit seiner Technik zu beruhigen, dann können wir Ihnen die Schädeldecke einfach hochnehmen wie eine Pudelmütze und sie später wieder aufsetzen. Wolln wir ja aber bei Ihnen gar nicht. Das, was sie wollen – ein einziges Segment hochklappen, und zwar dasjenige rechts über der Stirn –, das werden sie jetzt wohl gemacht haben. Da liegt deine Hirnmasse offen vor ihnen da. Für mich wird es Zeit, mich auf die Hände des Chirurgen zu konzentrieren. Auf seine Fingerspitzen. Impulse, für die es keine Worte gibt. Du, in deiner immer tiefer werdenden Bewußtlosigkeit, sollst beruhigt sein. Leidest du? Wohin gerät das Leiden, dessen wir nicht gewahr werden können –
    Das Leben als eine Folge von Tagen. Frühstücken. Den Kaffee mit dem orangefarbenen Meßlöffel in den Filter messen, die Kaffeemaschine anstellen, den Duft genießen, der sich in der Küche entfaltet. Gerüche stärker, bewußter wahrzunehmen als bisher ist mir noch nicht eingefallen, noch habe ich nicht gewußt, daß sie dir verlorengehen werden. Ausfälle, hat dir dein Arzt gesagt, sind nicht in jedem Fall zu vermeiden, aber wir halten sie so geringfügig wie möglich. Das Ei genau fünf Minuten kochen lassen, das Kunststück täglich erneut fertigbringen trotz des Defekts in der Minutenuhr. Die haltbaren Genüsse. Das Gerüst, welches das Leben auch über tote Zeiten trägt. Die Schnittfläche des dunklen mecklenburgischen Brotes. Angeschnittene Roggenkörner. Wann eigentlich und aufwelche Weise lagern sich Nuklide – auch ein Wort, das ich gerade zu lernen begonnen habe – in Getreidekörner ein. Das riesige Getreidefeld hinter unserem Haus, das ich, da die Holunderbüsche noch licht gewesen sind, von meinem Platz am
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