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Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Titel: Stoerfall - Nachrichten eines Tages
Autoren: Christa Wolf
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willst du wohl den Kopf nicht abwenden, nicht mit dieser Gebärde, und schon gar nicht heute! –, Milliarden Zellen, sag ich, quicklebendig, ja, ganz besonders agil in der komplizierten Struktur deines Gehirns, höchst neugierig, die was erleben wollen und die du nicht einfach im Stich lassen und dem Absterben überantworten kannst, bloß weil es dir mal fünf Minuten lang egal ist, was mit dir wird. Todmüde, Bruderherz? Sterbenselend? Du neigst doch sonst nicht zu Übertreibungen. Bloß weil du in der Narkose liegst, denkst du, du kannst dich hinterrücks davonmachen? Da merkt es keiner? Mag auch sein, daß dein Lebensnerv etwas brüchig ist. Dafür ist ja diese Zusatzleitung aufgebaut worden, doppelt genäht hält besser, wie unsere Mutter sagen würde. (Paß du mir auf deinen kleinen Bruder auf!) Aber festhalten mußt du schon. Nicht loslassen, Bruder! Festhalten. Ja, so. Ich zieh jetzt ein bißchen, kann dich schon sehen, immer näher, immer deutlicher. Jetzt ganz nah. So. Das hätten wir wohl. Mach das bitte nicht nochmal. Es ist gegen die Abmachung.
    Wetten, daß die Apparate überhaupt nicht ausgeschlagenhaben? Nicht einmal gezuckt? Sehr grobe Instrumente das, aber woran sollen die Chirurgen sich sonst halten. Den Sehnerv, behaupten sie, der ja leider in unmittelbarer Nähe des Operationsfeldes verlaufe, würden sie die ganze Zeit über gut unter Kontrolle haben. Kein Kommentar. Oder soll man sich den Sehnerv vielleicht von der Stärke jenes Zwirnsfadens vorstellen, mit dem bei uns zu Hause Knöpfe angenäht wurden? Nein, haben sie gesagt, hast du mir erzählt, für den Sehnerv bestünde keine akute Gefahr. Kein Wort weiter über den Sehnerv, nichtmal ein Gedanke. Woher soll ich wissen, mit welchem Sinn oder mit welchen Sinnen du vielleicht alles, was ich mir noch so verstohlen vorstelle, in dich aufnimmst. Sehen hören riechen schmecken tasten – das soll alles sein? Wer glaubt denn sowas. So unempfindlich wird man uns einst doch nicht auf den Weg geschickt haben. Wenn auch das Verlangen nach einem eingearbeiteten Geigerzähler eher anmaßend klingen mag, sogar humoristisch. Wer hätte vor diesen Millionen von Jahren voraussehen sollen, daß gerade er einmal unsere Überlebenschance als Gattung verbessern würde –
    obwohl ich andererseits nicht dringend habe wissen wollen, wie die überaus saftige grüne Wiese vor dem Haus sich auf der Skala eines Geigerzählers heute ausgenommen hätte. Aber die paar Löwenzahnblätter, die kleinsten, zartesten, die ich aus Gewohnheit im Vorbeigehen abgepflückt habe, um sie, wie all die Tage schon,zum Mittag als Salat zu essen, habe ich dann doch lieber weggeworfen. Dazu haben auch nochmals das kleine wie das große Radio, die auf verschiedene Stationen eingestellt gewesen sind, einmütig zur vollen Stunde geraten: Nichts Grünes. Keine Frischmilch für Kinder. Ein neuer Name für Gefahr wird in Umlauf gesetzt: JOD 131. Die Schilddrüse, hat sich herausgestellt, ist also eines unserer sensibelsten Organe zur Speicherung radioaktiven Jods. Von den Leuten, die sogar unwahrscheinliche Entwicklungen voraussehen, ist seit gestern der Vorrat an Jodtabletten in den Apotheken am Standort des einen Senders aufgekauft worden. Dies sei, bin ich belehrt worden, weder notwendig noch ratsam. Zwar blockiere dieses normale Jod die Schilddrüse für jenes andere, ungute, aber ...
    Da habe ich doch schnell nach Berlin telefonieren müssen, aber sie hatten es schon gehört. Blattgemüse und Spinat kriege man sowieso nicht zu kaufen, und frische Milch gebe sie den Kindern nicht mehr, hat die jüngere Tochter gesagt. (O Milch unfrommer Denkart, bittrer Trank ...) Im Sandkasten ist sie allerdings gestern nachmittag mit ihnen gewesen, danach habe sie sie leider gebadet. Ja, hätte ich das denn nicht gehört? Duschen solle man die Kinder, nachdem sie draußen gewesen seien. Das Bad weiche die Haut auf, öffne die Poren und schwemme die Radioaktivität erst recht in den Körper. Übertrieben? Wenn man das nur wüßte.
    Ich habe sie nach ihrer Stimme gefragt. Wie dieklinge. Sie hat gesagt, wie eine Stimme eben klinge, wenn man nachts nicht schlafe. Nun werde ich ja sicher wieder wissen wollen, warum sie nachts nicht schlafe, und da sage sie mir lieber gleich und von sich aus, bei ihr sei die Botschaft eben erst jetzt angekommen, daß alles schon zu spät sei, und dann lägen da die beiden Kinder in ihren Betten, und dann halte sie diesen Anblick eben nicht aus, und dann schlafe sie eben nicht,
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