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Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Titel: Stoerfall - Nachrichten eines Tages
Autoren: Christa Wolf
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ich mich überlegen gefühlt, weil die nicht wußten und es für lange, vielleicht zu lange Zeit nicht mitkriegen würden, daß ihr Beruf sich erledigt hatte. Ein, zwei, drei radioaktiveWolken aus ein, zwei, drei Reaktoren in verschiedenen Teilen der Welt, und die Regierungen würden aus Selbsterhaltungstrieb dazu übergehen müssen, ihre Geheimnisse der anderen Seite geradezu aufzudrängen. Aber natürlich habe ich mir keine Illusion darüber gemacht, daß die Auftraggeber dieser sympathischen Agenten heute abend schon registriert hatten, daß diese kleine radioaktive Wolke die Fähigkeit hatte, den Gegner – als Gegner – in nichts aufzulösen. Daß zu den Verzichten, die sie uns kategorisch abverlangte, als nicht geringster Verzicht der Verzicht auf den Feind gehörte. Allerdings habe ich mich fragen müssen, ob der schlichte Selbsterhaltungstrieb bei Menschen, die sich lange genug auf die Zerstörung des Gegners konzentrieren, überhaupt intakt bleiben kann –
    Ich bin noch einmal zum Telefon gegangen. Auch am Abend hatte die Schwester – die Nachtschwester nun schon – meiner Schwägerin Beruhigendes über dich gesagt, Bruder. Doch, du seist wach geworden, habest Durst gehabt und zu trinken bekommen. Wie dankbar ich der Schwester gewesen bin, die deinen Durst gestillt hat. Wir haben uns gegenseitig beruhigt, haben ein wenig darüber geredet, wie wir diesen Tag verbracht haben, haben nicht erwähnt und nicht wissen wollen, daß du dich sehr schlecht fühltest, daß dir übel war und wahnsinnige Schmerzen eingesetzt hatten. Ich habe meiner Schwägerin zugeredet, für diese Nacht ruhig eine Tablette zu nehmen, um einmalschlafen zu können. Immer noch nicht haben wir uns sagen können und wollen, was wir uns alles vorgestellt hatten; welche Filme in uns abgelaufen waren, in verschiedenen Varianten, darunter der Fall, daß die Operation mißlänge. Alle diese Bildfolgen haben wir jenen Bereichen unseres Gehirns zugeleitet, wo das Vergessen stattfindet –
    Ich habe den Fernseher ausgeschaltet, die Vorder-, dann die Hintertür abgeschlossen, das Geschirr vom Abendbrot abgewaschen, die Wurst in den Kühlschrank gestellt. Dabei habe ich die Ameisenstraße entdeckt, die sich dicht am Kühlschrank vorbei auf dem Küchenboden in Richtung Küchenschrank bewegte, die Schrankwand schnurgerade hinaufführte und auf der Marmorplatte zielbewußt das Tablett mit den Marmeladengläsern ansteuerte. Nun war mir endlich klar, wie die Ameisen in die Marmelade kamen. Ich habe also noch den Schrank und den Küchenboden von den Ameisen befreien müssen, habe sie weggewischt, ertränkt, zertreten, aufgefegt, und ich habe das feine Loch in dem morschen Türbalken, aus dem sie in ununterbrochener Reihe herausmarschiert kamen, mit einem in Essig getränkten Wattebausch verstopft. Ein paar Tage würde das wohl halten. Dann habe ich zum Glück noch rechtzeitig daran gedacht, Eimer und Töpfe mit Wasser zu füllen, weil, laut Bekanntmachung am Konsum, am nächsten Morgen wegen Arbeiten am Pumpenhäuschen das Wasser für einige Stunden abgeschaltet sein würde.
    Im Bad habe ich mich zu den gleichen Handgriffen gezwungen wie jeden Abend, obwohl ich so müde gewesen bin, daß ich nur schlafen wollte. Gingen mir mehr Haare aus als sonst? Welches waren überhaupt die ersten Symptome? Doch habe ich mir noch ein Buch suchen müssen, in dem ich ein paar Seiten lesen wollte, um einzuschlafen. Meiner Müdigkeit ist es wohl zu verdanken gewesen, daß ich das schmale Buch eines Autors aus dem Regal zog, der mir seit langem dringend empfohlen war, den ich aber, wegen meiner Abneigung für Seegeschichten, immer noch nicht gelesen hatte: Joseph Conrad. Das Herz der Finsternis . Ich habe die ersten Sekunden der Erleichterung im Bett ausgekostet, die Lampe über mir in die richtige Stellung gebracht und distanziert die erste Seite gelesen, die, wie erwartet, von einem Schiff handelt. Von einer seetüchtigen Jolle namens »Nelly«, die in der Themsemündung liegt und auf die Flut wartet. Nun ja. Ich habe versucht, mir die Themsemündung vor Augen zu führen, wie ich sie einmal gesehen hatte, aber das innere Bild ist sofort verdrängt worden durch eine Beschreibung des Abendlichts über dem Wasser, die mich hellwach gemacht hat. »Der Tag ging in stillem Glanz zu Ende«, so fängt sie an. Ich habe sie zweimal gelesen. Dann aber hat der Erzähler, der Marlow heißt, plötzlich mir ins Gesicht hinein den Satz gesagt: »Und auch dies ist einmal einer der
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