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Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Titel: Stoerfall - Nachrichten eines Tages
Autoren: Christa Wolf
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anderen vier oder fünf Briefe zurechtgelegt, welche Anfragen oder Einladungen enthielten, und habe sie, die letzteren abschlägig, beantwortet. Dabei habe ich immer wieder hinausgesehen. Ich habe den Sonnenuntergang nicht versäumen wollen, bin auf den Boden gelaufen, als die Sonne noch zwei Finger breit überdem Horizont gestanden hat, vom Bodenfenster aus habe ich ihr zehn, fünfzehn Minuten lang zugesehen, wie sie untergegangen ist, in jenem Farbenspiel, das nur die nördlichen Himmel kennen und dessen ich niemals satt werden kann. Daß die Sonnenuntergänge mich auch dann nicht langweilen würden, wenn immer mehr von dem, was mir heute noch wichtig ist, gleichgültig oder bedeutungslos geworden sein würde (wie so vieles, was mir vor zehn, und noch mehr, was mir vor zwanzig Jahren wichtig war, mich heute nicht mehr interessiert), der Gedanke ist mir ein kleiner Trost gewesen. Übrigens ist die blutrote, kugelförmige Sonne mir an jenem Tag, als sie mit ihrem äußersten Rand den äußersten Rand der Erde berührte, der ihr um Millimeter entgegenzukommen schien, ein sehr fernes, fremdes und unnahbares Gestirn gewesen, und ich habe nicht verstehen können, wie jemals Menschen sie bedichten konnten, noch weniger, wie man sie hat ansingen können: Holde Abendsonne / Wie bist du so schön . Das habe ich, vor einem halben Jahrhundert, meine Großmutter in ihrer Küche singen hören. Mich hat der Anblick dieses Gestirns, unbegründeterweise, an jenem Abend in meiner Überzeugung bestärkt, daß wir im Weltall allein sind und, so hoch oder so weit wir unsere Raketentürme schießen und andere Sonden aussenden mögen, kein menschliches Signal uns antworten wird. Wozu auch in den Kosmosschiffen diese Weltraumplakette mit dem Umriß des Menschenpaares – der Mann mit der zum Friedensgrußerhobenen Hand – als Botschaft aussenden an menschenähnliche Wesen auf anderen Planeten, wenn diejenigen, die sie erfanden und herstellen, unfähig geworden sind, in das Haus ihres Nachbarn zu gehen und ihm ein menschliches Signal, ein Lächeln, zu entlocken –
    Wenn eine Gehirnverletzung die Sprachzentren in Mitleidenschaft zieht, sei auch der Rest der Persönlichkeit gestört, sofern nicht, wie es manchmal vorkomme, andere Teile des Gehirns diese spezielle Funktion übernähmen. Solche Sätze können wir jetzt frank und frei denken, Bruder, nicht wahr. Überhaupt nimmt die Zahl und Art der denkbaren Sätze von Stunde zu Stunde zu, seit ich weiß, du lebst; du bleibst der, den wir kennen. »Reduziert«, höre ich dich sagen, aber was heißt das denn. Reduziert um jene Fähigkeit der Streßregulierung, die, nach einem Zeichen von der Hypophyse, die Nebenniere zu übernehmen hat. Das Zeichen bleibt aus, die Nebenniere arbeitet nicht, das Hormon fehlt, du kannst, über einen gewissen Pegel hinaus, Streßsituationen nicht ausregulieren. Dieser Pegel jedoch erlaubt es dir, fünf Stunden am Tag konzentriert zu arbeiten. Wer kann das schon! Sind nicht vielleicht unsere Ansprüche zu hoch oder falsch gerichtet. Ist nicht deine Lernaufgabe jetzt möglicherweise: dich entspannen, dich gehenlassen, dich erholen; genießen, was ohne Anstrengung zu erreichen ist. Und nicht: in immer neuem Anlauf jene Gebiete deines Nervensystems hochpeitschen, die dir vielleicht mitHilfe der Krankheit gerade nahelegen »wollten«, sie ein wenig zu schonen.
    Aber das ist doch kein Leben.
    Nein?
    Ein Leben ohne tägliche intensive Achtstundenarbeit ist kein Leben. Falls der Leistungsstand nicht mehr gewährleistet ist, kommen Worte wie »Invalide« auf. Die Sprache spielt mit, eilfertig liefert sie die Begriffe und verfestigt ein eher vages Empfinden. Nun ist es gesagt und heraus, und wie soll man von bestimmten Wörtern wieder weg- und herunterkommen? Wenn dir das bis jetzt kein Problem gewesen ist, Bruder – jetzt wird es eins. So daß sich, wie ich dir wieder und wieder vorzuhalten suche, dein Erfahrungsbereich in gewissem Sinn doch auch erweitert. Um unerwünschte Gebiete, mag sein. So wäre es deine Arbeit also jetzt, die unerwünschten zu angenommenen, und schließlich, womöglich, zu erwünschten Erfahrungen zu machen ...
    Das ist nun aber wirklich zuviel verlangt.
    Während ich die Briefe zum Briefkasten gebracht habe, ist mir aufgefallen: Immer scheinen die unzumutbaren Forderungen sich auf Versäumnisse in ungelebten Lebenszonen zu beziehen, die nicht ohne weiteres durch nachgelebtes Leben auffüllbar sind. Vorbei ist vorbei: Je älter wir werden, desto
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