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Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Titel: Stoerfall - Nachrichten eines Tages
Autoren: Christa Wolf
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den Fenstern des Hauses mit Blicken abgesucht habe, begraben liegt, durch Hunger eine leichte Beute des Typhus wurde, bin ich aus dem Gröbsten schon herausgewesen, die Geschichte war zwar in Stücke gebrochen, ich sah nicht, wie die Enden wieder zusammenzufügen wären, aber, vielleicht weil ich alt genug war, für Kartoffeln und Milch zu arbeiten, traf mein Typhus nicht auf einen entkräfteten Körper und war nicht von der tödlichen Art – auch der deine nicht, Bruder. Wir haben damals und manches Mal vorher und nachher Glück gehabt, und wenn ich auch weiß, daß ein Recht auf Glück sich daraus nicht ableitet, so scheine ich doch davon auszugehen, daß es ein Gewohnheitsrecht auf Glück gibt –
    und so habe ich dich nicht belogen, wenn ich dir versicherte, daß ich fest an den glücklichen Ausgang deiner Operation glaubte. Nicht belogen und nicht ganz die Wahrheitgesagt. In einem Punkt aber waren mein leidenschaftlicher Widerspruch, mein Zorn durch und durch echt, nämlich als du anfangen wolltest, deinem Leben nachzusagen, es habe dir alles, was es hätte bringen können, gebracht; nun könnten nur noch Wiederholungen kommen. Da habe ich, zornig und überzeugt, gegen meine eigenen geheimsten Gedanken gewettert –
    wie ich jetzt gegen die Frau des Mannes im olivgrünen Mäntelchen wetterte, die im Weggehen gesagt hatte: Wer weiß, was deiner Schwester erspart geblieben ist. Jene Anneliese, die, wennschon auf dem Grundstück, am ehesten unter dem alten Nußbaum liegen müßte, wäre jetzt vierundvierzig Jahre alt gewesen, und ich fing an, ihr ein Leben zu erfinden, während ich zugleich die Stellen im Haus zählte, an denen Energie verbraucht wurde, zu dem Schluß kam, daß es zu viele waren, und Überlegungen anstellte, auf welche Weise wir unseren Stromverbrauch deutlich herabsetzen könnten. Das kleine Radio, das ich unter dem Arm mit mir herumgetragen habe, lief auf Batteriebetrieb. Es hat mir mitgeteilt, während ich auf dem Dachboden von Fenster zu Fenster gegangen bin und die unvergleichlichen Ausblicke, deren man nie überdrüssig wird, in mich aufgenommen habe – hat mir mitgeteilt, daß in Kiew die Mütter oder Großmütter anfingen, mit den Kindern die Stadt zu verlassen, und ich mußte mir vorstellen, daß dies Kinder waren, die, trotz allem, was sie über den Krieg erfahren habenmochten, der einst, für sie in grauer Vorzeit, über ihre Stadt gegangen war, wiederum ein Gefühl von Unverletzbarkeit hatten entwickeln können, und daß nun, ohne daß sie es noch wußten, das Leben einiger von ihnen – in abergläubischer Furcht hielt ich selbst in Gedanken die Zahl so niedrig wie möglich – durch die Folgen eines blinden Zufalls gezeichnet werden würde.
    Warum ertragen wir es nicht, dem Zufall ausgeliefert zu sein. Ich habe mich an meinen Arbeitstisch gesetzt, um endlich die Briefe vom Vormittag zu lesen, darunter den Brief jener Frau, die, über achtzigjährig, mir mit ihrer ausfahrenden Altersschrift aus London schreibt und die ich so gerne noch sehen würde – ein Wunsch, den ich in mir nähre, ohne mich auf die Zweifel allzu tief einzulassen, die sich in mir regen, je länger ihre Krankheit, die wir beide »Erschöpfung« nennen, anhält. Altersfurcht? hat sie geschrieben, Furcht vor dem Nachlassen der Intensität, der Lebensfreude, der Spannkraft? Aber das seien doch dumme Faxen. Um wieviel vernünftiger sei es doch, sich dem Rhythmus von Arbeit, Erschöpfung, Ausruhen zu überlassen und jenen Kräften in uns zu vertrauen, die von Natur aus auf Erneuerung drängen. Auf Wiedergeburt.
    Welch ein Wort. Hörst du es mit, Bruder: Wiedergeburt. Ja, ich habe mich noch ganz gut an die Zeit erinnern können, da ich selbst derartige Worte gebrauchte und mit ihnen einen Sinn verband. Ein kurzer, scharfer Sehnsuchtsschmerz hat diese ganzeZeit vor mir aufgerissen, zusammen mit dem Abgrund, in dem sie versunken ist. Ich habe begriffen, daß irgendwann – vielleicht nicht auf einmal, vielleicht endgültig erst heute – die Taue gerissen sind, die unser Lebensnetz an gewissen Halterungen befestigt hatten. Taue, die man nicht nur Sicherungen, auch Fesseln nennen konnte. Die vor uns würden für immer von ihnen gehalten und an sie gebunden sein; die nach uns haben die Taue gekappt und sehen sich, losgelöst, frei, zu tun und zu lassen, was ihnen beliebt. Wir würden uns nie mehr auf jene Bindungen verlassen können, sie aber auch, und sei es als Sehnsucht nach ihnen, nie ganz loswerden. Der Zufall, daß
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