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Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Titel: Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
Autoren: Mark Watson
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    Bevor sie berühmt wurden
    Mein Interesse für Psychologie erwachte 1964, als ich vierzehn war und sich mein Englischlehrer mit dem Vorwurf konfrontiert sah, verrückt zu sein. Ein hochgewachsener, spilleriger Mann in grauem Anzug besuchte unsere Schule, um dieser Beschuldigung nachzugehen. Er war ein flüchtiger Bekannter meines Vaters; als Police Constable des Ortes hatte Dad schon einmal gemeinsam mit ihm an einem Fall gearbeitet. Der Mann übernachtete ein paarmal in unserem Haus und wurde mir bald als Psychologe vorgestellt. Obwohl ich mir nach außen nichts anmerken ließ, wenn ich auf der Treppe an ihm vorbeischlich, nahm ich natürlich an, dass er direkt in meine Seele blicken konnte.
    Hätte er das tatsächlich getan, hätte er erkannt, dass mein einziges größeres Persönlichkeitsproblem ein erblühender Minderwertigkeitskomplex war. Mein bester Freund Richard Aloisi war der herausragende Schüler der Klasse, und unsere Interessen kollidierten mit manchmal geradezu bösartiger Regelmäßigkeit. Das Muster für unsere Freundschaft wurde bereits durch unsere erste Begegnung vorgegeben – bei einer Party zum elften Geburtstag von jemandem, an den ich mich nicht mehr erinnere. Soeben hatte ich eine Gruppe potenzieller neuer Freunde damit beeindruckt, dass ich mir drei Pingpongbälle in den Mund stopfte – ein schwieriger Trick, den mir mein Onkel Tom am ansonsten ereignislosen Weihnachtstag des Jahres 1961 beigebracht hatte. Allgemein bewundert für diese Leistung, bot ich einem Bekannten mit schmalem Mund eine Lehrstunde im Austausch gegen einen Teil seines Kuchens an. Doch in diesem Augenblick spazierte Richard herein, dessen Kiefer sperrangelweit auseinanderklafften, um vier Bälle unterzubringen. Mein Onkel hatte mir erklärt, dass den »Vier-Ball-Schwall« nur eine winzige Elite beherrschte, und bei dieser ersten Begegnung meines Lebens mit einem offenkundig überlegenen Rivalen rutschte mir das Herz in die Hose. »Probier’s nicht mit vier, Pete«, hatte mich Tom mit ernster Stimme gewarnt, während er mir unter den Augen meiner völlig unbeeindruckten Mutter die speichelbedeckten Bälle aus dem Mund zog wie Münzen aus einem Spielautomaten, »und wenn du einen Typen triffst, der das kann, geh ihm lieber aus dem Weg.« An diesem Abend ließen sich sechs Mädchen Richards Telefonnummer geben. Nur zwei wollten meine, und eine von ihnen (Jennifer O’Hara) tauschte sie später gegen eine Dose Cola.
    Mit angemessener Sentimentalität sollten Richard und ich diese Party Jahre später bei einer anderen Feier würdigen: dem Bierfest zu unserem Abschied von der Schule. Die Gästeliste war fast die gleiche, und die Körper und Gesichter älterer, betrunkenerer Menschen zeigten die gleichen Manierismen und Gesten, als wären die Schultage nur ein Film mit weicher Blende von einer Veranstaltung zur anderen gewesen, eine Montage fallender Blätter und purzelnder Kalenderseiten, die das Verstreichen der Zeit markierten. Bei dieser Feier wurde Richard – den es wie mich bereits nach Amerika zog – gefragt, welche Inschrift er sich auf seinem Grabstein wünschte. Nach kurzer Überlegung erwiderte er: »Ich möchte, dass sie nichts draufschreiben als meinen Namen. Wenn man es wirklich geschafft hat, muss nicht dastehen, wer man war.«
    Seine Bemerkung löste beifälliges Murmeln aus. Selbst angesichts der überschwappenden Gefühle beim Abschlussball konnte sich wohl jeder vorstellen, ehrfurchtsvoll dreinblickenden Kindern von diesen Worten zu erzählen, während Richard auf dem Mond landete. Als mir die Grabsteinfrage vorgelegt wurde, schwang ich mich zu einer Prognose auf. »Auf meinem wird wahrscheinlich stehen: Zu Richard Aloisis Grab hier entlang .« Das Lachen, das ich dafür erntete, bescherte mir einen der stolzesten Momente meiner Schulzeit.
    Der kleine Skandal um den umstrittenen Englischlehrer Mr. Paulson bot einen seltenen Hauch von Sensation in unserer Heimatstadt, dem letzten Ort in England, der noch unberührt war vom Geist der Rebellion, der das Jahrzehnt in den Augen der Nachwelt prägen sollte. Witching war so mittelmäßig, dass ein ausreichender Abriss seiner Geschichte auf den Lesezeichen Platz hatte, die in der heruntergekommenen, oft geschlossenen Bibliothek verkauft wurden, wo meine Mutter jahrelang als Teilzeitkraft gearbeitet hatte. Im Jahr 1682, so verkündeten die Lesezeichen, verdiente sich die Stadt ihren Namen durch einen Ausbruch abergläubischer Brutalität: Drei Frauen, die
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