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Licht

Titel: Licht
Autoren: M. John Harrison
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1
     
Desillusioniert vom Faktischen
     
    1999:
    Kurz vor Toresschluss fragte jemand Michael Kearney: »Wie gedenken Sie die erste Minute des neuen Millenniums zu verbringen?« Das also verstand man in einer trostlosen Kleinstadt in den Midlands, wo er seinen Vortrag gehalten hatte, unter einem Spielchen nach dem Dinner. Schneeregen schlug an die Fenster des privaten Esszimmers und rann im orangefarbenen Schein der Straßenlaterne an den Scheiben herunter. Antworten folgten einander rings um den Tisch, mit geradezu nachtwandlerischer Hellsicht, manche mit Hintergedanken, manche sittsam, alle optimistisch. Man wollte trinken bis zum Umfallen, miteinander schlafen, Feuerwerk gucken oder aus dem Fenster eines Flugzeugs den endlosen Sonnenaufgang verfolgen.
    Dann gab jemand zu: »Mit den Scheißkindern vermutlich.«
    Brüllendes Gelächter und gleich darauf: »Mit jemandem, der jung genug ist, um eins von meinen Kindern zu sein.«
    Mehr Gelächter. Allgemeiner Beifall.
    Von dem Dutzend rings um den Tisch gaben die meisten etwas Ähnliches zum Besten. Kearney hatte keine hohe Meinung von den Leuten und wollte, dass sie es erfuhren; er war böse auf die Frau, die ihn hergelotst hatte und wollte, dass sie es erfuhr. Also sagte er, als er an der Reihe war: »Am Steuer eines fremden Wagens zwischen zwei Städten, die ich nicht kenne.«
    Er wartete, bis das Schweigen sich ausgebreitet hatte, und fügte bedächtig hinzu: »Es müsste allerdings ein anständiges Auto sein.«
    Vereinzeltes Lachen.
    »Du liebe Zeit«, sagte jemand. Sie sah lächelnd in die Runde. »Wie freudlos.«
    Jemand wechselte das Thema.
    Kearney ließ es dabei bewenden. Er zündete sich eine Zigarette an und dachte über die Idee nach; sie hatte ihn ziemlich überrascht. In dem Augenblick, da sie ihm über die Lippen gekommen war – da er sich auf sie eingelassen hatte – da hatte er erkannt, wie zersetzend sie war. Nicht bloß wegen der Einsamkeit, der Egozentrik des Bildes hier in dieser Schonung aus akademischer und politischer Selbstzufriedenheit – nein, vielmehr wegen der Kindlichkeit des Bildes. Die Freiheiten, die es darstellte: die Wärme und Leere des Automobils; sein Geruch nach Plastik und Zigaretten; das leise spielende Radio bei Nacht; das grüne Leuchten der Armaturen; bei jeder Kurve das Gefühl zu haben, über ein Instrument zu verfügen oder eine Reihe instrumenteller Entscheidungen zu treffen – diese Freiheiten waren ebenso infantil wie befriedigend. Sie beschrieben sein bisheriges Leben.
    Als man aufbrach, sagte seine Begleiterin: »Na ja, eine reife Leistung war das nicht.«
    Kearney hätte nicht jungenhafter lächeln können. »Sag bloß?«
    Sie hieß Clara. Sie war Ende dreißig, rothaarig, körperlich noch ziemlich jung, nur das Gesicht zeigte Ansätze von Falten und litt sichtlich unter der Anstrengung, sie zu überspielen. Die Karriere hatte Einsatz gefordert. Sie war allein erziehend und hatte Erfolg gebraucht. Sie hatte jeden Morgen fünf Meilen joggen müssen. Sie hatte gut im Bett sein müssen, sie hatte Sex brauchen müssen, ihren Spaß daran haben müssen und in der Lage sein müssen, nachts »Oh. Da. Ja, so!« zu winseln. War sie nervös, hier in einem viktorianischen Hotel aus roten Ziegeln und Terracotta mit einem Mann zusammen zu sein, der das alles offenbar nicht zu schätzen wusste? Kearney war sich nicht sicher. Er sah sich um. Das glänzende gebrochene Weiß der Korridorwände erinnerte ihn an die Grundschulen seiner Kindheit.
    »Eine schreckliche Bruchbude«, sagte er.
    Er nahm sie bei der Hand, sodass sie mit ihm die Treppe hinunterlaufen musste, zog sie in einen menschenleeren Raum, in dem zwei oder drei Billardtische standen, und tötete sie so rasch, wie er all die anderen getötet hatte. Sie sah zu ihm auf und, noch bevor ihre Augen brachen, schlug die Erwartung darin in Verwirrung um. Er kannte sie seit etwa vier Monaten. Anfangs hatte sie ihn als ›seriell monogam‹ eingestuft. Vielleicht erkannte sie nun ja die Ironie dieser Bezeichnung, wenn schon nicht die linguistische Inflation darin.
    Draußen auf der Straße – achselzuckend, mit einer Hand rasch und wiederholt über den Mund wischend – glaubte er eine Bewegung, einen Schatten an der Wand zu sehen, den Anflug einer Bewegung im orangefarbenen Schein der Straßenlaterne. Regen, Schneeregen und Schnee, alles schien auf einmal herunterzukommen. In dem Gemisch glaubte er Dutzende von kleinen Lichtsplittern zu erkennen. Funken, dachte er. In allem
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