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N. P.

N. P.

Titel: N. P.
Autoren: Banana Yoshimoto
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    J a, richtig, Sarao Takases Kinder hatte ich vorher schon einmal gesehen, vor mehr als fünf Jahren, als ich noch zur Oberschule ging.
    Es war auf der Party eines Verlags, zu der Sh ō ji mich mitgenommen hatte. Ein geräumiger Saal, Silberplatten mit bunten Speisen auf großen Tischen, eine Menge Menschen, die im Schein vieler kleiner, orchideenförmiger Leuchter plauderten.
    Junge Leute waren kaum da, weshalb ich ziemlich froh war, die beiden zu entdecken.
    Sh ō ji war gerade in ein Gespräch vertieft, und so wandte ich mich ab, um die zwei besser sehen zu können. Sofort befiel mich ein seltsames Gefühl. Einen Augenblick lang war mir, als sei ich ihnen schon mehrfach nachts im Traum begegnet. Doch dann wurde mir klar, daß es jedem bei den beiden so gehen mußte, und ich kehrte in die Wirklichkeit zurück.
    Ein Paar, das eine undefinierbare Sehnsucht in einem weckte.
    Ganz in Gedanken starrte ich sie an, als Sh ō ji sich mir zuwandte: »Das sind die Kinder von Takase«, sagte er.
    »Beide?« fragte ich.
    »Ja, es sollen zweieiige Zwillinge sein.«
    »Ich würde mich gern mit ihnen unterhalten.«
    »Soll ich dich vorstellen?«
    »Warum nicht, schließlich gelte ich hier als zwanzig, du Feigling!« Ich mußte lachen.
    Sh ō ji lachte auch: »Na umso besser. Komm, ich stell dich vor.«
    »Nein, laß, ich beobachte die beiden lieber noch ein bißchen.«
    Sie aus einer gewissen Entfernung anzuschauen schien mir am reizvollsten zu sein. Würde ich sie ansprechen, wäre es mit der eingehenden Beobachtung vorbei.
    Die beiden waren die Kinder aus Takases Ehe, die er in ganz jungen Jahren geschlossen hatte. Sie waren ungefähr so alt wie ich, und ihr Vater hatte die Familie verlassen, als sie noch klein waren. Nach seinem Tod war ihre Mutter mit ihnen zu Takases Familie nach Japan gezogen. Das war so ungefähr alles, was ich über sie wußte.
    Die müssen schon eine Menge gesehen haben, dachte ich und beobachtete weiter. Beide waren groß und hatten braunes Haar. Das Mädchen wirkte zerbrechlich, hatte aber einen frischen Teint und zarte, glatte Haut. Feste Waden über schwarzen Stöckelschuhen, ein tief ausgeschnittenes Kleid unter einem unschuldigen Gesicht. Sie strahlte eine seltsam heitere Sinnlichkeit aus.
    Der Junge hatte ebenfalls hübsche Züge. Von den leicht melancholischen Augen abgesehen, strotzte sein ganzer Körper vor hoffnungsvoller Gesundheit. In seinen Augen hingegen lag ein Schimmer von Wahnsinn, man sah in ihnen die Macht der Vererbung.
    Die beiden lachten viel. Die ganze Zeit redeten sie miteinander, lächelten sich an.
    Als ich sie so betrachtete, erinnerte ich mich an ein Erlebnis, bei dem ich ein ganz ähnliches Gefühl wie jetzt bekommen hatte:
    Ich ging im Park in der Nähe unseres Hauses spazieren. Auf der Wiese sah ich eine Mutter mit ihrem Kind. Der weite, menschenleere Park, das grüne Gras waren in goldenes Abendlicht getaucht. Die junge Mutter hatte das winzige, vielleicht sechs Monate alte Baby auf ein weißes Badetuch gelegt und sah es an. Sie spielte nicht mit ihm, sie lächelte nicht, sie sah ihr Kind einfach nur an. Und von Zeit zu Zeit schaute sie in den Himmel.
    Das Haar der beiden wurde gleichermaßen von der Sonne durchschienen und vom Wind durchweht, ihre dunklen Schatten verharrten still wie Figuren aus einem Gemälde von Wyeth.
    Ich sah sie an. Mein Blick schien sich plötzlich von mir zu entfernen, schien sich in den Blick Gottes zu verwandeln. Melancholie und Glück flossen zusammen an diesem Abend von Unendlichkeit.
     
    Die Geschwister Takase umgab etwas ganz Ähnliches. Die Melancholie des leuchtenden Abendrots. Eine Melancholie, die weder durch Jugend noch Fröhlichkeit hätte ausgelöscht werden können, vergleichbar vielleicht dem Ruf der Begabung, die im Blut liegt.
    Ich fragte Sh ō ji: »Wirst du die Erzählung von Sarao Takase übersetzen?«
    Er sah mich an und sagte nicht ohne Stolz: »Ja.«
    »Wie war noch der Titel, irgendwas mit Initialen.«
    » N.P. «
    »Was bedeutet das?«
    »Es ist die Abkürzung von North Point. «
    »Und wofür steht das?«
    »Es gibt ein altes Lied mit diesem Titel.«
    »Was für ein Lied?«
    »Hm, ein sehr trauriges Lied«, sagte Sh ō ji.

 
     
     
    D as Klingeln des Telefons riß mich unsanft aus dem Schlaf.
    Ich streckte den Arm aus dem Bett, um den Hörer abzunehmen: »… Hallo?«
    An mein Ohr drang nun die gedämpfte Stimme meiner Schwester: »Kazami? Ich bins, wie gehts?« Das typische Ferngesprächfeeling, dieser
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