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Licht

Titel: Licht
Autoren: M. John Harrison
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untersagt waren. Er handelte mit kleinen Mengen Heroin, das mit Nebennierenprodukten aus der hiesigen Tierwelt verschnitten war. Nichts von alledem kostete ihn wirklich viel Zeit. Die meiste Zeit des Tages verbrachte er auf der Farm und onanierte etwa alle zwanzig Minuten vor den holografischen Pornoshows; die Neuen Menschen waren hervorragende Masturbierer. Er kontrollierte die Tanks. In der übrigen Zeit schlief er.
    Wie die meisten Neuen Menschen schlief auch Tig Vesicle nicht gut. Es war, als würde ihm etwas fehlen, etwas, das ein erdähnlicher Planet nicht zu bieten hatte und das sein Körper weniger brauchte, wenn er wach war. (Selbst in der Wärme und Dunkelheit des Geheges, das er als sein ›Zuhause‹ betrachtete, zuckte und wimmerte er im Schlaf und trat mit den langen Storchenbeinen aus. Seiner Frau erging es nicht anders.) Er träumte schlecht. Am schlimmsten war es, wenn er davon träumte, Geld für die Cray-Schwestern einzutreiben; aber es war die Pierpoint Street selbst, die ihn durcheinander brachte, im Traum war sie eine Straße, die ihn kannte, eine Straße voller Tücke und bösartiger Intelligenz.
    Es war früher Vormittag und schon waren zwei Polizisten dabei, ein Rikschagirl aus der Gabel ihres Vehikels zu zerren. Sie krümmte sich vor Lachen und fuchtelte herum wie ein gestürztes Pferd, die Haut rings um den Mund lief blau an, als sich alles von ihr entfernte und so klein wurde, dass sie es nicht mehr sah. Street Life spielte immer noch ihren Lieblings-Soundtrack und Café électrique hatte wieder ein beherztes Menschenkind zerstört. Als er etwa auf halber Länge in die Pierpoint Street wollte, stellte Vesicle fest, dass die Gebäude keine Nummern hatten, es gab nichts, was er wiedererkannte. Ging es nun rechts zu den hohen Nummern oder links? Er kam sich vor wie ein Idiot. Diese Anmutung ging nahtlos in Panik über, und er fing an, ungeachtet des Verkehrs immer wieder die Richtung zu wechseln. Folglich entfernte er sich nie weiter als ein, zwei Blocks von der Seitenstraße, aus der er gekommen war. Nach einer Weile bekam er flüchtig die Cray-Schwestern selbst zu Gesicht, wie sie vor einem Falafel-Salon posierten und auf ihre Mieten warteten. Sie mussten ihn gesehen haben. Er blickte in eine andere Richtung. Der Job musste bis Mittag erledigt sein und er hatte noch nicht einmal damit begonnen. Schließlich ging er in ein Restaurant und fragte den Erstbesten, in welche Richtung er zu gehen habe, nur um zu erfahren, dass das gar nicht die Pierpoint Street war. Es war eine völlig andere Straße. Er würde Stunden brauchen, um dahin zu gelangen, wo er eigentlich sein sollte. Er war selber schuld. Er war zu spät losgegangen heute früh.
    Vesicle wachte weinend auf. Unwillkürlich identifizierte er sich mit dem sterbenden Rikschagirl; schlimmer noch: Irgendwann zwischen Wachen und Träumen waren ›Mieten‹ zu ›Tränen‹ geworden, und das, so spürte er, fasste das Leben seiner ganzen Rasse zusammen. Er stand auf, wischte sich den Mund am Mantelärmel ab und trat auf die Straße hinaus. Er hatte diesen komischen schlacksigen Watschelgang, den alle Neuen Menschen haben. Zwei Blocks weiter in Richtung der Klinik für exotische Krankheiten kaufte er sich eine Portion Muranofisch in Curry, die er mit einer Einwegholzgabel aß, wobei er den Plastikbehälter dicht unters Kinn hielt und das Essen mit ungeschickten, gierigen Bewegungen in den Mund schaufelte. Dann kehrte er in seine Tankfarm zurück und dachte über die Cray-Schwestern nach.
    Evie und Bella hatten angefangen mit digitalisierten Retropornos – sich auf derart realistische Oberflächen spezialisierend, dass dadurch der sexuelle Akt zu etwas Maschinellem und Interessantem verfremdet schien –, dann nach dem Zusammenbruch des Haussemarkts von 2397 hatten sie sich aufs ›Tanken‹ und die damit verbundenen Gaunereien verlegt. Jetzt waren sie reich. Vesicle hatte eher Respekt als Angst vor den beiden. Er war jedes Mal fasziniert, wenn sie in seinen Laden kamen, um die Mieten abzuholen oder die Einnahmen zu prüfen. Er kannte jede Handbewegung und jede Geste der Schwestern und versuchte immer so zu reden wie sie.
    Nachdem er noch ein wenig dazugeschlafen hatte, machte Vesicle einen Rundgang durch die Farm und kontrollierte die Tanks. Irgendetwas veranlasste ihn, bei einem der Tanks stehen zu bleiben und die Hand daran zu legen. Der Tank fühlte sich warm an, als habe inwendig die Aktivität zugenommen. Der Tank fühlte sich an wie ein
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