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Schneestille

Schneestille

Titel: Schneestille
Autoren: Graham Joyce
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    Es schneite wieder. Fedrige sechseckige Schneeflocken wie aus dem Bilderbuch, die sich auf den Ärmel ihrer Jacke legten. Die Bergluft prickelte förmlich vor Eis und dem würzigen Geruch nach Kiefernharz. Gierig sog Zoe die Luft in die Lunge und genoss die klirrende Kälte, um dann tief auszuatmen. Und als der Berggipfel ihr zuzunicken und ihr Seufzen zu erwidern schien, da glaubte sie, jetzt einfach glücklich sterben zu können.
    Im Leben gibt es wenige Momente, die so kristallklar und rein sind wie Eis, und dieser, in dem der Berg ihr seinen Lebensatem zuhauchte, gehörte dazu. Zoe wusste, dass sie einen solch raren Augenblick eingefangen hatte, den ihr nun niemand mehr nehmen konnte. Ringsum war nichts als Schnee und Stille. Schnee und Stille; der vollkommene Stillstand allen Lebens; Probe und Vor-Echo des Todes.
    Doch ihr Atem war noch warm und strafte diesen Gedanken Lügen. Sie richtete ihre Skier bergab. Sie sahen aus wie seltsame grellrote und goldene Klauen im Pulverschnee, während sie, bereit loszuschießen, dastand und wartete. Ich lebe. Ich bin ein Adler. Etliche Hundert Meter weiter unten lagen die dunklen Umrisse von Saint-Bernard-en-Haut, ihrem kleinen Feriendorf in den Pyrenäen; weiter im Westen ragten die unregelmäßigen Buckel und Zacken der Bergkette in den Himmel. Die Sonne war inzwischen aufgegangen; es würde nicht mehr lange dauern, bis weitere Skiläufer den schaurig-schönen frühmorgendlichen Zauberbann brachen. Doch vorerst hatten sie den Pulverschnee und den Morgen ganz für sich allein.
    Hinter ihr war ein Wispern zu hören. Es waren Jakes Ski, die federleicht über den Schnee glitten, während er über den Berggrat schoss und dann mit ihr aufschloss.
    Mit einem eleganten Schwung kam er neben ihr zum Stehen. Im Gegensatz zu ihrem modischen fliederfarben und weiß gemusterten Skianzug war er ganz in Schwarz gekleidet, und die Morgensonne brach sich mit irisierendem Schimmer in seiner gewölbten übergroßen schwarzen Sonnenbrille. Er blieb stehen und genoss diesen ganz besonderen Moment gemeinsam mit ihr. Sie bildete sich ein, seinen Atem wie eine austerngraue Dunstwolke aufsteigen zu sehen. Er nahm die Sonnenbrille ab und blinzelte sie an. Jake hatte kurz geschorene schwarze Haare und babyblaue Kulleraugen, in die sie sich auf der Stelle verliebt hatte. Seine großen Ohren dagegen waren etwas gewöhnungsbedürftig gewesen. Eine einzelne, gigantische Schneeflocke schwebte wie eine Feder herab und ließ sich auf seinen Wimpern nieder.
    Jake zerschmetterte die Stille mit einem Freudenjauchzer purer Glückseligkeit. »Wuuu-huuuuu!« Er reckte die Skistöcke hoch über den Kopf und zeigte dem Berg sein wackelndes Hinterteil. Sein schriller Schrei hallte durch die Schluchten, Feier und Entweihung der Natur zugleich.
    »Mach doch so was nicht. Du kannst doch dem Berg nicht dein Arschloch zeigen, Arschloch«, meinte Zoe.
    »Und warum nicht, Arschloch?«
    »Weiß ich auch nicht, Arschloch. Hab ich bloß so gesagt.«
    »Ich konnte es mir nicht verkneifen. Das hier ist einfach zu perfekt.«
    Und das war es auch. Es war makellos. Vollkommene eingeschweißte puderzuckrige Perfektion am Stiel.
    »Bist du so weit?«, fragte sie.
    »Ja, legen wir los.«
    Zoe war die versiertere Skifahrerin von ihnen beiden. Jake fuhr zwar schneller, aber er war unbesonnen und schlitterte immer hart an der Grenze seiner Fähigkeiten entlang. Auf längeren Strecken konnte sie ihn locker in die Tasche stecken. Ohne Zwischenstopp hinunter zum Dorf zu fahren, dauerte etwa eine Viertelstunde. Anderthalb Stunden brauchten sie, um mit Sessel-und Schlepplift bis ganz nach oben zu kommen, und fünfzehn Minuten für die Abfahrt. Sie waren früh aufgestanden, um den Urlauberhorden bei ihrer ersten Abfahrt des Tages zuvorzukommen. Denn genau darum – um die Ruhe, die Stille, den unberührten Pulverschnee und das irre Gefühl, fast wie ein Adler im Sturzflug zu Tal zu rasen –, darum ging es doch eigentlich.
    Jake stürzte sich die Westseite der steilen, aber breiten Piste hinunter, und sie nahm die östliche Seite. Dann rauschten sie gemeinsam talwärts und malten dabei parallele Spuren in den Schnee. Ihre Skier säuselten dem Pulverschnee kleine Geheimnisse zu, kribbelnd vertraulich, während sie die Piste hinuntersausten. Das Zischen ihrer Skier klang, als sei ihr irgendein mythisches Geschöpf oder ein übernatürliches Wesen auf den Fersen, das ihr seine Geschichte ins Ohr flüstern wollte.
    Aber am Rand der Piste, ganz
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