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Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Titel: Stoerfall - Nachrichten eines Tages
Autoren: Christa Wolf
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Eines Tages, über den ich in der Gegenwartsform nicht schreiben kann, werden die Kirschbäume aufgeblüht gewesen sein. Ich werde vermieden haben, zu denken: »explodiert«; die Kirschbäume sind explodiert, wie ich es noch ein Jahr zuvor, obwohl nicht mehr ganz unwissend, ohne weiteres nicht nur denken, auch sagen konnte. Das Grün explodiert: Nie wäre ein solcher Satz dem Naturvorgang angemessener gewesen als dieses Jahr, bei dieser Frühlingshitze nach dem endlos langen Winter. Von den viel später sich herumsprechenden Warnungen, die Früchte zu essen, deren Blüte in jene Tage fiel, habe ich an dem Morgen, an dem ich mich wie jeden Morgen über das Treiben der Nachbarshühner in unserer frischen Grassaat ärgern mußte, noch nichts gewußt. Weiße Leghorn. Das beste, was man von ihnen sagen kann, ist, daß sie auf mein Klatschen und Zischen hin angstvoll, wenn auch verwirrt reagieren, immerhin ist eine Mehrheit von ihnen aufgescheucht in Richtung auf das Nachbargrundstück gelaufen. Eure Eier, habe ich gedacht, schadenfroh, werdet ihr womöglich für euch behalten können. Und jener Instanz, die von früh an begonnen hat, mich aus einer sehr fernen Zukunft aufmerksam zu betrachten – ein Blick, nichts weiter –, habe ich zu verstehen gegeben, daß ich mich von nun an an nichts mehr gebunden fühlen würde. Frei, zu tun und vor allem zulassen, was mir beliebt. Jenes Ziel in einer sehr fernen Zukunft, auf das sich bis jetzt alle Linien zubewegt hatten, war weggesprengt worden, gemeinsam mit dem spaltbaren Material in einem Reaktorgehäuse ist es dabeigewesen zu verglühen. Ein seltener Fall –
    Sieben Uhr. Da, Bruder, wo du jetzt bist, fängt man pünktlich an. Deine Beruhigungsspritze wirst du schon vor einer halben Stunde bekommen haben. Jetzt haben sie dich von der Station in den Operationssaal geschoben. Ein Befund wie der deine kommt als erster unters Messer. Jetzt spürst du, denke ich mir, ein nicht unangenehmes Drehen in deinem geschorenen Kopf. Es ist ja darauf angelegt, daß du keinen scharfen Gedanken fassen, kein allzu deutliches Gefühl empfinden sollst, zum Beispiel Angst. Alles geht gut. Dies ist die Botschaft, die ich dir, ehe sie dich in den Narkoseschlaf versetzen, als einen gebündelten Energiestrahl übermittle. Nimmst du ihn wahr? Alles geht gut. Jetzt lasse ich deinen Kopf vor meinem inneren Auge erscheinen, suche den verletzlichsten Punkt, den mein Gedanke durchdringen kann, um dein Gehirn zu erreichen, das sie gleich freilegen werden. Alles geht gut.
    Da du nicht fragen kannst: Die Art Strahlen, lieber Bruder, von denen ich rede, sind gewiß nicht gefährlich. In einer mir unbekannten Weise durchqueren sie die verseuchten Luftschichten, ohne sich anzustecken. Das Fachwort ist: kontaminieren. (Während du schläfst, Bruder, lerne ich neue Wörter.) Steril,garantiert steril erreichen sie den Operationssaal, deinen hilflos, bewußtlos hingestreckten Körper, tasten ihn ab, erkennen ihn in Sekundenbruchteilen. Würden ihn auch erkennen, wenn du noch stärker entstellt wärst, als du es zu sein behauptest. Mühelos durchdringen sie die dichte Abwehr deiner Bewußtlosigkeit, auf der Suche nach dem glühenden, pulsierenden Kern. Auf eine Weise, die sich der Sprache entzieht, stehen sie jetzt deiner schwächer werdenden Kraft bei. Darauf sollst du dich verlassen, so ist es verabredet. Es gilt –
    Nicht unvorbereitet, doch ahnungslos werden wir gewesen sein, ehe wir die Nachricht empfingen. War uns nicht, als würden wir sie wiedererkennen? Ja, habe ich eine Person in mir denken hören, warum immer nur die japanischen Fischer. Warum nicht auch einmal wir.
    Die Vögel und der Test.
    Leichtfertig und unbesorgt habe ich das Wasser beim Duschen an mir herunterrinnen lassen. Jeder einzige der zahllosen Experten, die jetzt wie Pilze aus der Erde schießen (Pilze! ungenießbar für diese Saison!), hat das Grundwasser für noch lange, lange nicht – vielleicht diesmal überhaupt noch nicht! – gefährdet erklärt. In einem Bächlein helle. Es ist eine Unart, beim Duschen zu singen. Auch erschwert es, aus dem kleinen Radiogerät Marke Sanyo die Nachrichten zu empfangen, in welche DIE NACHRICHT jede Stunde umgemünzt und zerkleinert wird. Die launische Forelle. Speicherfisch für radioaktive Zerfallsprodukte.Je nachdem, welcher der Parteien, in die auf vorhersagbare Weise die Öffentlichkeit zerfällt, der Experte angehört hat und ob er Optimist oder Pessimist gewesen ist, hat er gesagt: Nein.
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