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Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Titel: Stoerfall - Nachrichten eines Tages
Autoren: Christa Wolf
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dunklen Orte der Erde gewesen.« Da habe ich endlich einmal wieder jenen Schlag gegen mein Herz gespürt, denich nur dann spüre, wenn ein Schreiber aus der Tiefe seiner Selbsterfahrung zu mir spricht.
    Und auch dies ist einmal einer der dunklen Orte der Erde gewesen. Dies auch. Und auch dies. Ich habe auf die Nachtgeräusche gehört, die durch das offene Fenster hereingekommen sind, ein leiser Wind, ein verschlafenes Hundebellen, zum erstenmal in diesem Jahr die Frösche. Mit angespannter Erwartung habe ich weitergelesen, und nach wenigen Sätzen habe ich begriffen: Ja, dieser Marlow weiß Bescheid. Er hat alles schon gesehen und begriffen, hundert Jahre vor dieser »Unserer Zeit«, und da liege ich und höre ihm zu, erschrocken und entzückt, wie er von der Wildnis spricht, von der tiefen Finsternis des unbekannten Kontinents, Afrika, und von den Geheimnissen im Herzen seiner Bewohner, zu denen für die weißen Eroberer kein Weg führt. »Bedenkt, keiner von uns würde ganz so empfinden. Was uns rettet, ist die Nutzleistung. Die Hingabe an die Nutzleistung ...« Elfenbein. Elfenbein, in jeder Menge, um jeden Preis, auf jede nur denkbare und undenkbare Methode der Wildnis und den Wilden entrissen. Wer soll je den alten Neger vergessen, der da geschlagen wird. Wer den Todeshain. Wer jenes Eingeborenendorf, das seine Bewohner in panischer Angst verlassen haben: »Was aus den Hennen geworden war, konnte ich auch nicht feststellen. Ich möchte aber glauben, daß sie der Sache des Fortschritts anheimfielen.« Ich habe aufgestöhnt, aus mehreren Gründen, darunter aus Bewunderung fürdiesen Autor. Wie hat er Bescheid gewußt. Wie muß er allein gewesen sein. Und wie soll nun ich auch noch mit diesen sechs durch Ketten aneinandergeschmiedeten Schwarzen leben. »Sie wurden Verbrecher genannt, und das verletzte Gesetz war ebenso wie die platzenden Schrapnells von jenseits des Meeres zu ihnen gekommen, als ein unfaßbares Geheimnis.« Ich habe nicht weiterlesen können, nicht an diesem Abend. Einzelne Sätze habe ich mir noch beim Blättern herausgefischt, es gab sie: »Wahrheit, Wahrheit, des Zeitgewandes entkleidet!« – Morgen würde ich weiterlesen, vielleicht auch nachsehen wollen, mit welchen Mitteln er es zu solchen Wirkungen brachte. Wie er es geschafft hat, sich von Begriffen wie »Mittel«, »Wirkungen« frei zu machen – das schwerste. Heute habe ich genug. Der da, dieser Autor, hat gewußt, was Trauer ist. Er hat sich, nicht nur in Gedanken, mitten hineinbegeben in den blinden Fleck jener Kultur, der auch er angehörte. Unerschrocken ins Herz der Finsternis. Und das Licht, das ja auch ihn geleitet haben muß, hat er gesehen als einen »wandernden Sonnenfleck auf einer Ebene, wie ein Blitz in Wolken«.
    Wir leben in diesem Aufblitzen – mag es währen, solang die Erde rollt.
    So redet dieser Mensch zu mir. Wörter wie »Haß« oder »Liebe« würde ich bei ihm kaum finden, so scheu. »Gier« gab es, häufig. Gier, Gier, Gier. –
    Vor dem Einschlafen habe ich jene Vorrichtung in denIntensivstationen vor mir gesehen, die sie »Tropf« nennen. Hängst du am Tropf, Bruder? Schläfst du? Da hat mir eine Stimme bis in den Schlaf hinein die Stelle aus dem Märchen vorgelesen, in dem die wahre Königin in eine Ente verwandelt ist. In der Nacht aber sah der Küchenjunge, wie eine Ente durch die Gosse geschwommen kam, die sprach: Königssohn, was machst du, schläfst du oder wachst du ...
    Spät in der Nacht bin ich von einer Stimme hochgeschreckt und von einem Heulen. Die Stimme hatte von weit her gerufen: A faultless monster! Das Heulen, habe ich nach geraumer Zeit gemerkt, ist von mir gekommen. Ich habe im Bett gesessen und geheult. Mein Gesicht ist von Tränen überströmt gewesen. Soeben war in meinem Traum ein riesengroßer, naher, ekelhaft in Zersetzung übergegangener Mond sehr schnell hinter dem Horizont versunken. Am nachtdunklen Himmel war ein großes Foto meiner toten Mutter befestigt gewesen. Ich schrie.
    Wie schwer, Bruder, würde es sein, von dieser Erde Abschied zu nehmen.
    Juni – September 1986
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