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Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Titel: Stoerfall - Nachrichten eines Tages
Autoren: Christa Wolf
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die große Klotür in mein kleines Auge rein? – Erbarm dich! habe ich gesagt. Und weiter? – Natürlich habe sein Vater ihm daraufhineine exakte Zeichnung angefertigt: Die Klotür, das Auge, in dem die Lichtstrahlen sich kreuzen, der Weg über den Sehnerv zum Sehzentrum im Gehirn. Und daß es die Sache des Gehirns sei, das winzig kleine Abbild im Bewußtsein des Empfängers wieder auf normale Klotürgröße zu bringen. – Und? Hat er sich zufriedengegeben? – Du kennst ihn doch. Weißt du, was er gesagt hat? Er hat gesagt: Und wie kann ich sicher sein, daß mein Gehirn mir die Klotür wirklich auf die richtige Größe bringt? – Tja, habe ich nach einer Pause gesagt. Du, übrigens: Wie kann man da wirklich sicher sein? – Jetzt hör du aber auf! hat meine ältere Tochter mich zurechtgewiesen, und wir haben noch darüber gesprochen, wie schwer es ihnen falle, gerade jetzt, nach dem langen Winter, das Grünzeug nicht zu essen, das es endlich zu kaufen gebe. Wir haben auch über dich gesprochen, Bruder, und ich habe gemerkt, daß meine Tochter mir jetzt, nach der Operation, ihre auf Fachwissen beruhenden Befürchtungen deutlicher zeigte als davor. Diese Art Schonung hätte ich mir gerne verbitten können, aber ich habe den Impuls unterdrückt, habe mich flüchtig gefragt, wann eigentlich das Zentrum der Schonung sich von den Kindern auf die Eltern verlagert, und dagegen hätte ich gerne noch einmal rebelliert. Also habe ich meiner Tochter noch unvermittelt die Frage gestellt, ob sie eigentlich unserem einst gemeinsamen Glauben, was ausgesprochen sei, sei überwunden, immer noch anhänge, oder ob sie ihn inzwischen für Aberglauben halte. Darauf hatsie mir nicht geantwortet, mir ist von selber eingefallen, daß wir wohl in diesem Punkt nie genau den gleichen Glauben hatten, und ich habe verstanden, daß sie über die Art Fragen hinaus gewesen ist und mich mit ihren neueren Einsichten nicht erschrecken wollte. Wohl auch nicht glauben konnte, daß ich imstande wäre, sie wirklich zu akzeptieren. Mit einem schmerzhaften Ruck bin ich wieder um ein Stück vorgerückt in der Generationenfolge, das Körpergefühl eines Fossils hat sich weiter in mir ausgebreitet, die gute, alte Echse in mir hat genüßlich mit ihrem Schwanz geschlagen, oder war es etwas Delphinartiges, denn gegen Abend, wenn ich meinen ersten Schluck Wein getrunken habe – auf dich, Bruder! Auf deine Gesundheit! –, lasse ich beinahe jede Art von Einfällen zu; spüre ich mit einer manchmal fast bösen Erleichterung, auch Erheiterung, meine Selbstzensur schwinden, und so habe ich mich mit eben dieser Erheiterung der Phantasie überlassen, die Delphine – kluge Tiere, Bruder, deren Hirnvolumen, auf ihr Körpergewicht bezogen, dem unseren nicht um vieles nachsteht – könnten einmal, in grauer Vorzeit, die Gabe des Sprechens, die vielleicht auch ihnen angeboten wurde, nach reiflicher Überlegung abgelehnt haben, um sich ihre pfeifende Kommunikation im Ultraschallbereich, ihr spielerisches Dasein und ihr freundliches Verhalten bewahren zu können. Denn (so habe ich, mit meiner herabgesetzten Hemmschwelle, am Abend dieses Tages eingesehen, während ich, einen Campingtisch mit meinem Abendbrottablettvor den bequemsten Sessel gerückt, abwechselnd verschiedene Fernsehprogramme angestarrt und dabei gegessen habe), denn wir können uns drehen und wenden, wie wir wollen; wir können uns kopfstellen: freundlich sein, das können wir nicht. Wir haben die Geschenke falscher Götter angenommen, und wir alle, jeder einzelne von uns, haben die falschen Speisen von den falschen Tellern mitgegessen.
    Aber was heißt denn das, was kann irgendeine, auch die gelungenste Formulierung überhaupt noch heißen, soviel ist schon geredet und geschrieben worden, immer dichter wird der Kordon des Wort-Ekels, das hätte ich niemals für möglich gehalten, lieber Bruder, vorläufig sage ich es nur dir, Älterwerden heißt: alles geschieht, was du niemals für möglich gehalten hättest, und wie hätte ich voraussehen sollen, daß zuerst die Worte, dann meine Worte mich ekeln würden, und wie blitzschnell der Umschlag in Selbst-Ekel gehen kann, das hätte ich auch nicht gedacht, es ist also nicht wahr, daß man, älter werdend, nichts Neues mehr erfährt, wer sich früher davonmacht, hat, so hart der Widerstand ihn manchmal angekommen sein mag, nur die Vorfelder durchschritten, nun erst steht er vor der Zitadelle, und in seinen schwärzesten und wahrhaftigsten Stunden sieht er in
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