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Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Titel: Stoerfall - Nachrichten eines Tages
Autoren: Christa Wolf
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als das Schmuddelkind, sozusagen, und wenn ich sie recht verstanden habe, muß unsere Wolke sich irgendwann geteilt haben, oder sie ist auf der einen Bahn hin-, auf der anderenzurückgezogen; jedenfalls sind der Norden und der Süden Europas getadelt worden für ihre bedauerlichen radioaktiven Werte, aber den Bauern, die ganz wild in die Kamera geschimpft haben, weil niemand ihnen sagen konnte, wer ihnen den untergepflügten Salat bezahlen würde, habe ich ja auch nicht helfen können; ihr Geld war ihr Problem. Mein Problem dagegen ist die Überlegung gewesen, ob wir uns in einem Ernstfall wie diesem tatsächlich zu Nordeuropa zählen mußten, was wir sonst leichtfertigerweise und eigentlich aus Eitelkeit tun, oder ob wir nicht, genaugenommen, noch zu Mitteleuropa gehören. Inzwischen haben die Herren in den Anzügen sich gegenseitig alle Sicherheitsfaktoren aufgezählt, die einen Reaktorunfall ausschließen, und sie haben sich und uns auch nochmals alle Gründe genannt, welche die sogenannte friedliche Nutzung des Atoms als unverzichtbar – dies war ihr Wort – erscheinen ließen, und wenn der eine von ihnen auf irgendein Argument nicht gleich gekommen ist, dann hat der andere ihm eingeholfen, es war wie in einer guten Schulstunde, und ich habe ihnen so aufmerksam zugehört, daß ich nach einigen Minuten so weit gewesen bin, ihnen nun meinerseits vorsagen zu können, und das tat ich versuchsweise, und es hat fast immer gestimmt. Aber dann hat der Moderator, der an der Verbreitung einer besonnenen, gefaßten Stimmung interessiert gewesen ist, geglaubt, nun könne er unbesorgt einen der beiden Herren auf die Aussage festnageln, daß also auch bei diesem besondersfortschrittlichen Bereich von Wissenschaft und Technik absolut fehlerfreie Prognosen für die Sicherheit der in Frage kommenden Anlagen zu treffen seien. – Selbstverständlich! habe ich dem Befragten einhelfen wollen, aber da bin ich voreilig gewesen; denn nun haben der Moderator und ich zu unserer schmerzlichen Überraschung erleben müssen, daß der sich bei aller Bereitschaft zum Entgegenkommen auf diese Aussage nicht hat festnageln lassen wollen. Nun, haben wir ihn sagen hören. Absolut fehlerfreie Prognosen – die gebe es für einen so jungen Zweig der Technik allerdings nicht. Da müsse man, wie immer bei neuen technischen Entwicklungen, mit einem gewissen Risiko rechnen, bis man auch diese Technik vollkommen beherrsche. Dies sei ein Gesetz, das auch für die friedliche Nutzung der Atomenergie gültig sei.
    Nun hätte mir kalt werden sollen. Nun hätte ich erschrocken oder empört sein sollen. Nichts davon. Ich habe ja gewußt, daß sie es wissen. Nur, daß sie es auch aussprechen würden, und sei es dieses eine Mal – das hätte ich nicht erwartet. Mir ist ein Brieftext durch den Kopf gegangen, in dem ich – beschwörend, wie denn sonst – irgend jemandem mitteilen sollte, daß das Risiko der Atomtechnik mit fast keinem anderen Risiko vergleichbar sei und daß man bei einem auch nur minimalen Unsicherheitsfaktor auf diese Technik unbedingt verzichten müsse. Mir ist für meinen Brief im Kopf keine reale Adresse eingefallen, also habe ich einige Schimpfwörterausgestoßen und den Kanal abgeschaltet. Das Fernsehen überhaupt auszuschalten, habe ich meistens nicht die Kraft, schon gar nicht an jenem Abend. Das kannst du nun »Sucht« nennen, Bruderherz, und du hast es mit sanftem Tadel so genannt; ich werde dir das nicht bestreiten. Einem jeden seine Taste, wie den Ratten die ihre, einem jeden seine Schwachstelle, an der die Segnungen der Zivilisation in ihn eindringen können.
    Ich habe zwischen zwei Filmen die Wahl gehabt, die ich beide schon kannte. In dem älteren Schwarz-Weiß-Streifen hat der Schauspieler, der den Mann von Ingrid Bergman spielte, versucht, sie, seine Frau, verrückt zu machen – mit Hilfe flackernder Gaslampen und ähnlich primitiver Erscheinungen. In dem anderen gelingt es einem alternden englischen Geheimdienstoffizier, der eigentlich schon pensioniert ist, mit seinen guten alten psychologischen Methoden einen Agenten der Feindseite im Herzen der eigenen Zentrale zu entlarven. In geschmackvollen Brauntönen, mit bewährten Schauspielern. Ich habe andauernd die Taste gedrückt und von jedem Film ungefähr die Hälfte gesehen. Ob nun dieses andauernde Umschalten ein gutes Gehirntraining ist oder ob es die Konzentrationsfähigkeit schwächt, ist an jenem Abend meine geringste Sorge gewesen. Den Agenten beider Weltsysteme habe
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